Lilly unter den Linden
ein Stück in Sichtweite der langen Mauer entlangzufahren. »Auf dieser Seite gibt es keine Graffiti wie in Westberlin«, bemerkte er, als ob mir das nicht schon selbst aufgefallen wäre. »Niemand kommt weit genug heran, um die Mauer zu bemalen, denn davor liegen Sicherheitszaun und Todesstreifen. Er ist streng bewacht – siehst du die Kontrolltürme? Nachts suchen sie das Gelände mit Scheinwerfern ab, aber trotzdem gibt es immer wieder Leute, die versuchen hinüberzukommen.«
Er bog nach links ab und ich war erstaunt, als in der fast menschenleeren Seitenstraße plötzlich der dunkle Eingang einer verlassenen U-Bahn-Station vor uns auftauchte. Pascal hielt an und forderte mich auf, das Fenster herunterzukurbeln. Nach kurzer Zeit hörten wir es unter der Erde rumpeln, heißer Wind stieg aus den Belüftungsschächten auf. In schnellem Tempo näherte sich eine Bahn. »Es gibt Geisterbahnhöfe in dieser Stadt«, sagte Pascal, als das Rumpeln am lautesten wurde, »in denen seit Jahrzehnten keine Bahn mehr gehalten hat. Die Treppen führen ins Nichts, der Eingang ist zugemauert. Da unten gibt es nur noch Ratten und Mäuse. Die Bahn fährt durch bis zur Friedrichstraße, wo es einen bewachten Grenzübergang für Fußgänger gibt.«
Er warf einen Seitenblick auf mich. »Du kannst noch zurück, Lilly. Du brauchst dir auch nicht blöd vorzukommen. Wir fahren jetzt einfach wieder nach Hause und ich verspreche dir, wir reden nie wieder davon …«
Ich lauschte der U-Bahn nach, die sich rasch entfernte. Die heißen Wolken, die die Belüftungsschächte in den Regen geblasen hatten, fielen auf das Pflaster zurück und verdampften. »Aber wenn ich zu Lena fahre, fahre ich doch nach Hause«, hörte ich mich mit kleiner Stimme sagen.
»Bist du denn sicher, dass du das Haus überhaupt findest?«
Das Rumpeln tief unten in der Erde hatte aufgehört. Ich seufzte tief. »Bahnhof geradeaus, erste Straße rechts, links, rechts und dann immer geradeaus. Wenn du an ein rundes Denkmal kommst mit einer Marmorstatue darin, dann bist du schon fast da. Mami hat es mir oft genug beschrieben!«
»Na gut«, murmelte Pascal und fiel für den Rest des Weges in tiefes Schweigen.
Manchmal, wenn auch ganz selten, können wenige Sekunden, eine kleine Unachtsamkeit, ein kurzes Nicht-Aufpassen über das ganze weitere Leben entscheiden. Was wäre geschehen, wenn Pascal geahnt hätte, wie nahe er nach dem Abstecher zu dem Geisterbahnhof daran gewesen war, mich zur Umkehr zu bewegen? Aber er hat mir einfach nicht angesehen, dass mir plötzlich das Atmen schwer fiel, weil mir etwas Beängstigendes erst jetzt bewusst geworden war: Hinter all den Mauern dieser Stadt blieb meine alte Heimat möglicherweise für immer zurück. Der Hamburger Hafen und das Alsterbecken, das im Winter schneeweiß zufrieren und auf dem man Schlittschuh laufen konnte, das Kinderkino und das Musicaltheater und das Café in der Mönckebergstraße mit dem besten italienischen Pistazieneis weit und breit, der Wind um den Leuchtturm in Blankenese und ja, auch Mamis Grab auf dem Friedhof in Ohlsdorf …
Denn es gab keinen einzigen freien Durchgang, selbst die breite gepflegte Prachtstraße »Unter den Linden«, zu beiden Seiten von majestätischen Bauwerken gesäumt, endete im Niemandsland der Mauer, die in respektheischendem Abstand die Säulen des Brandenburger Tors umstellte. Die Pferde vor dem Streitwagen oben auf dem Tor, aus dem Westen kommend, verharrten mitten im Sprung. Seit siebenundzwanzig Jahren warteten sie darauf, dass der Weg in den Osten wieder frei wurde.
Seht her, dachte ich, plötzlich trotzig. Ich hab’s geschafft!
Die unfreundlichen Grenzbewacher mitsamt ihrem schauerlichen Arbeitsplatz, diese ganze Stadt mit ihren weggesperrten Lichtern und zugemauerten Straßen sollte sich bloß nicht einbilden, dass ich vergessen hatte, dass in diesem Land meine Familie auf mich wartete! Ich wollte nicht über Ost und West nachdenken, ich wollte nicht einmal eine Antwort auf die Frage haben, mit welchem Recht Menschen glaubten, andere in ihrem eigenen Land einsperren zu dürfen. Ich wollte meine Familie zurück!
Nachdem ich mir dies in Erinnerung gerufen hatte, ging es mir besser, war die Entscheidung endgültig getroffen und ich versuchte, nicht mehr auf die Mauer, sondern auf die Menschen zu achten, die durch den Ostberliner Regen liefen. Für sie gehörte die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zum Alltag, vielleicht schauten sie schon gar nicht mehr
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