Lilly unter den Linden
losgerannt. Jedes Mal kam ich enttäuscht wieder zurück. Doch nicht …
»Es könnte auch eine Seitenstraße sein«, meinte Pascal. »Wer weiß, wie es da heute aussieht. Lass es gut sein, Lilly. Wir müssen zum Bahnhof!«
Ich nahm ihm das Foto wieder aus der Hand und starrte es beschwörend an. Das durfte einfach nicht wahr sein – ich war so dicht dran, das spürte ich! »Es muss hier sein!«, wiederholte ich zum zigsten Mal.
»Also, mir reicht es jetzt.« Pascal fuhr auf den Randstreifen, um zu wenden. »Dieses Auto fährt jetzt zum Bahnhof, ob mit dir oder ohne dich!«
»Nein!«, schrie ich. »Da ist es! Halt an!«
»Na gut!«, seufzte Pascal. »Einmal noch.«
Ich reiße vor Aufregung fast den Griff ab und springe heraus, obwohl das Auto noch ausrollt. Und seltsam, ich bin nicht mehr allein, als ich über die Straße auf den Dom zulaufe. Neben mir läuft Jochen, mein Vater, den ich nie bewusst gesehen habe, aber mit dem ich jetzt wie durch ein Wunder zusammentreffe. Ich bin nicht einmal überrascht, ihn zu sehen, denn seit wir in Berlin sind, habe ich das Gefühl, dass er da ist. Meine Sehnsucht ist schließlich auch die seine, und unser Herz fliegt die Stufen hinauf, weil oben Mami auf uns wartet und die Arme ausbreitet, um …
Etwas hält mich zurück und sagt: Sieh nicht nach.
Es ist kein Verbot, nur eine leise Stimme tief in mir, und vielleicht bin ich deshalb auch gar nicht traurig über das, was die Stimme mir sagen will: dass Mami jetzt geht, gehen kann … wenn ich es zulasse.
Ich bleibe unten stehen und wende mich ab und lasse Jochen allein weiterlaufen. Ich glaube ganz fest, dass er sie gefunden hat.
13
Meine junge, modisch aufgeschlossene Mutter hatte eine heimliche Leidenschaft, die ich nie so ganz begreifen konnte: Sie liebte alte Filme. Während ich die angestaubten Kulissen und bieder gekleideten Helden hausbackener Romanzen nur schwer ertragen konnte, schmachtete sie dahin und wollte nicht gestört werden. Vor allem die sechziger und frühen siebziger Jahre hatten es ihr angetan, und als wir die Grenze von West- nach Ostberlin passierten, begriff ich auch, warum. Es war, als wären wir in einer von Mamis Filmkulissen gelandet. Hier fuhren die eckigen kleinen Autos, die ich so oder ähnlich aus alten Fernsehfilmen kannte, hier sah ich Hauswände, die wie anno dazumal mit bunten Werbeschriften bemalt waren. Die verblassenden Bilder und Schriftzüge sahen aus, als befänden sie sich schon seit Jahrzehnten dort, was durchaus vorstellbar war, denn anders als die bei uns üblichen Leuchtreklamen ließen sie sich ja nicht so ohne weiteres austauschen. Die grellen Lichter und verschwenderischen Schaufensterfronten, die wir eben noch passiert hatten, waren auf der anderen Seite der Grenze geblieben, und zwar so plötzlich, als hätte man einen Vorhang zugezogen. Es gab trotz des bevorstehenden Weihnachtsabends nicht einmal einen Stau. Das Hupkonzert an den Ampeln fehlte und selbst die Fußgänger schienen im Gehen ruhiger aufzutreten.
Und plötzlich verstand ich, dass Mami gar nicht für Joachim Fuchsberger und Karin Dor geschwärmt hatte. Sie hatte in den alten Filmen Bilder wiedergefunden, die sie an ihre Heimat erinnerten, an die DDR und an eben jene siebziger Jahre, in denen sie einen letzten Blick darauf hatte werfen dürfen. Auch meine Mutter musste das Gefühl gekannt haben, die Zeit anhalten zu wollen. Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, dass sich hier seit damals nicht sehr viel verändert haben konnte. Noch nie hatte ich mich meinen Eltern so nahe gefühlt! Ausgerechnet an diesem Ort verband sich der Lebensfaden meiner Familie – ausgerechnet hier, wo über allem die Mauer präsent war, von der ich schon so viel gehört hatte, dass sie in meiner Vorstellung schon beinahe ins Reich der Märchen und Legenden abgewandert war.
Denn die Mauer war überall; man brauchte sie nicht einmal zu sehen, um zu erahnen, wo die Grenze verlief: Die Häuser von Westberlin, an diesem dunklen Regentag hell erleuchtet, waren an manchen Stellen fast zum Greifen nahe. Und es war, als ob der Blick nach drüben es hier noch stiller und dunkler machte. Auf beiden Seiten waren die Häuser aus demselben Stein und im selben Stil erbaut, sie wurden buchstäblich von derselben Wolke mit Regen gewaschen. Aber zwischen ihnen lag eine ganze Welt.
Pascal, der es eben noch so eilig gehabt hatte, zum Bahnhof zu kommen und die Sache hinter sich zu bringen, machte jetzt beinahe ein Zeremoniell daraus,
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