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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ausgeblichen und wellte sich an den Rändern. Es war ein schönes Gefühl, schon zu einer Zeit hier gegenwärtig gewesen zu sein, als ich mir über meine Verwandten noch keinerlei Gedanken gemacht hatte.
    In der Nähe der Tür waren kleine Striche und Daten auf die Blümchentapete gemalt: Katrin und Till mit fünf, mit sechs, mit sieben … Am liebsten hätte ich Lena um einen Stift gebeten und mich mit dem heutigem Datum dazugeschrieben.
    »Guten Morgen, Lilly!«, sang Lena mir zu. »Hast du gut geschlafen?«
    »Prima«, log ich.
    Sie gab mir einen Kuss und drückte mir die Kaffeekanne in die Hand. »Nimmst du die mit hinüber?«
    Mit »hinüber« war der Durchgang von der Küche zum Wohnzimmer gemeint, wo mir Tills erwartungsvolles Gesicht schon vom Esstisch entgegenstrahlte. Auch Onkel Rolf war da und schälte Äpfel; sein schütteres Haar war leicht zerrauft, die Brille saß schief und er bewegte sich wie ein sitzender Schlafwandler. »Guten Morgen«, grüßte ich.
    »Morgen!«, sagte Till. »Papa ist deinetwegen erst um halb drei nach Hause gekommen!«
    Onkel Rolf machte eine abweisende Handbewegung mit seinem Obstmesser und warf mir einen müden, aber freundlichen Blick zu. Ich stellte die Kanne auf den Tisch und wollte zerknirscht Platz nehmen.
    »Da setzt du dich besser nicht hin«, warnte Till. »Das ist Katrins Platz.«
    Ich sprang wie von der Tarantel gestochen auf und wollte einen Stuhl weiter rücken. »Und da sitzt Mama«, sagte mein Cousin.
    Lena, die mit dem Brotkörbchen kam, drückte mich energisch auf ihren Platz zurück. »Das ist doch Unsinn. Bleib sitzen, Lilly.«
    »Ich meine ja auch nur«, maulte Till.
    Onkel Rolfs übernächtigte Augen musterten mich über den Rand seiner Brille hinweg. »Wenn man irgendwo neu dazukommt, ist es immer besser, man kennt die Regeln. Lilly wird mir da sicher zustimmen.«
    »Ja, ja, das ist wahr!«, versicherte ich eilfertig.
    Lena nahm neben Rolf Platz. »Andererseits können wir Lillys Ankunft auch zum Anlass nehmen …«, begann sie, aber Onkel Rolf ließ sich nicht unterbrechen und vollendete: »Andererseits haben wir hier die große Chance, unsere Regeln mal zu ändern.«
    Lena warf ihrem Mann einen liebevollen Blick zu. »Noch Fragen? Ich sitze ab heute hier!«, verkündete sie lächelnd.
    Die Holzdielen bebten, als mit energischen Schritten das letzte noch fehlende Familienmitglied zum Frühstück kam. Katrin ließ sich auf ihren Platz fallen, griff wortlos nach dem Brotkorb und legte sich drei Schnitten auf einmal auf den Teller. Sie zog die Butter quer über den Tisch und stach ihr Messer tief hinein.
    »Morgen, Katrin«, sagten Lena und Onkel Rolf im Duett. Keine Antwort. Ihre Tochter griff nach der Marmelade und schlug den vollen Löffel so heftig über ihrem Butterbrot aus, dass kleine rote Spritzer über das Tischtuch flogen.
    Mir blieb der Mund offen stehen. Gleich geht’s los, gleich fliegt sie vom Tisch!, dachte ich beklommen. Nicht, dass ich sonderliches Mitgefühl mit Katrin gehabt hätte, aber anderer Leute Streitigkeiten erfüllen mich immer mit Unbehagen.
    Lena hob die Schultern. »Fangen wir doch an!«, meinte sie.
    Wir vier wünschten einander einen guten Appetit und ich beugte mich erleichtert vor, um in mein Brot zu beißen. Leider knallte ich dabei mit der Kaffeekanne zusammen, die Katrin mit einer ausholenden Bewegung so über den Tisch schwenkte, dass rein zufällig mein Kopf im Weg war, der ja aus Katrins Sicht hier auch gar nichts zu suchen hatte.
    »Entschuldigung«, stammelte ich verwirrt.
    Auf Lenas Stirn brauten sich Gewitterwolken zusammen, aber Onkel Rolf nahm mit unveränderter Freundlichkeit seine Kaffeetasse und hielt sie Katrin hin. »Danke, mein Herz, sehr aufmerksam von dir.«
    Wir hielten alle den Atem an. In Katrins Gesicht arbeitete es, dann zuckte etwas wie ein Lächeln auf ihren Lippen und sie goss ihrem Vater großzügig ein. Sie hörte gar nicht mehr auf damit. Sie goss und goss und Onkel Rolf rief: »Dankedankedanke«, bis Katrin endlich ein Einsehen hatte und die Kanne absetzte. Kaffee schwappte über den Rand der Tasse und verbrühte meinem Onkel den Daumen, als er sie an seinen Platz zurückbalancierte.
    Der Rest des Frühstücks verlief reibungslos. Katrin hatte ihren Standpunkt wohl hinreichend deutlich gemacht und wirkte zufrieden, auch wenn sie sich weiter in Schweigen hüllte. Ich konnte nicht fassen, was ihre Eltern sich von ihr gefallen ließen. Mami und Pascal hätten mir die Hölle heiß gemacht.

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