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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Wie kam es, dass dieses Mädchen ihre Familie derart unter Kontrolle hatte?

16
    Mein Cousin hatte zu Weihnachten ein Fahrrad geschenkt bekommen und brannte darauf, es auszuprobieren. Gleichzeitig, so setzte er uns wortreich auseinander, könne er sich nützlich machen und mir die Gegend zeigen. Er schlug vor, dass wir die Fahrräder mit der Straßenbahn an einen Ort namens Ziegenhain transportierten, zu einem Fuchsturm hinauffuhren und von dort das Panorama genossen. Anschließend könne man ein langes Stück bergab fahren und ausprobieren, ob das Fahrrad der Marke Diamant auch hielt, was die Hersteller versprachen. Till regte an, dass Lena uns »Stullen« und eine Thermosflasche mit heißem Tee mitgab, damit wir uns unterwegs stärken konnten. Diese Rede und die Schilderung all der Sehenswürdigkeiten und Erlebnisse, die mich unterwegs erwarteten, nahm ungefähr zehn Minuten in Anspruch. Meine Tante und mein Onkel sahen leicht erschöpft aus, als ihr Sohn endlich zum Ende kam.
    »Was meinst du, Lilly?«, fragte Lena. »Hättest du dazu Lust?«
    »Klar«, sagte ich.
    Die Abfahrt verzögerte sich, weil es Till nicht gelang, die Fahnenstange des »FC Carl Zeiss Jena«-Wimpels von seinem alten Kinderfahrrad an dem neuen Gepäckträger zu befestigen. Schließlich half Lena mit etwas Blumendraht nach und wir konnten losfahren. »Sag laut und deutlich Bescheid, wenn du wieder nach Hause willst«, schärfte Lena mir ein. »Tills Ausdauer kann für andere Menschen mitunter recht anstrengend sein.«
    Till hörte zu und nickte.
    »Darf ich denn überall hin?«, fragte ich. »Was ist, wenn jemand erkennt, dass ich nicht von hier bin?«
    »Das mit deinem Visum ist geregelt«, erwiderte Lena. »Nach Weihnachten fährt Rolf mit dir zur Meldestelle, da bekommst du es nachträglich ausgestellt.«
    »So einfach ist das?« Ich strahlte und fiel ihr um den Hals.
    Lena strich mir über den Rücken. »Ganz so einfach ist es nicht«, sagte sie gedehnt. »Aber wenigstens kannst du hier keinen Ärger mehr bekommen.«
    Das klang doch alles wunderbar! Dennoch hatte ich das komische Gefühl, dass Lena ein wenig bedrückt wirkte, als sie uns nachwinkte.
    Till legte sich sehr ins Zeug, um mir die angekündigten Sehenswürdigkeiten nahe zu bringen, an denen wir auf unserem Weg zur Straßenbahn vorbeikamen (»Hier ist die Laterne, an der Papa unseren Wartburg eingebeult hat.«). Ich staunte über die Altstadthäuser mit ihrem bröckelnden Putz und ihren kleinen verschnörkelten Balkons, über die Gaslaternen aus Weltkriegszeiten. Ganze Häuserzeilen waren mangels Baumaterial und Farbe dem langsamen Verfall preisgegeben, an anderen Stellen klafften Löcher mitten auf der Straße, um die die Autos sorgsam herumfuhren. Manches erinnerte mich an die ärmeren Stadtviertel in Hamburg – mit dem großen Unterschied, dass es hier trotz allem sauber und ordentlich aussah, dass die Bewohner dieser Häuser dem Verfall offenbar nicht gleichgültig gegenüberstanden, sondern ihre Umgebung zu erhalten versuchten, so gut es eben ging. So manche Haustür war mit immergrünen Zweigen weihnachtlich geschmückt, in vielen Fenstern standen Schwibbögen, die Leute, die uns entgegenkamen, erwiderten zwar erstaunt, aber freundlich meinen Gruß. Überall rauchten munter die Schornsteine und ich stellte mir hinter jeder Hauswand gemütliche kleine Wohnstuben vor. Ich fühlte mich, als ob ich in einem Märchenbuch spazieren ginge. Ein Hauch von Verheißung lag in der Luft, als lägen der Zauberspruch, die Verwandlung, die Zukunft noch vor uns. Für mich, die ich damals ohnehin zwischen den Welten lebte – irgendwo zwischen der Erinnerung an meine Mutter und den verschwommenen Vorstellungen von der Zeit nach ihr –, war es, als hätte ich den Ort gefunden, an dem alles wieder zueinander zu passen schien. Ich fuhr durch die Altstadt wie in einem Rausch. Ich war zu Hause – endlich!
    Im Zentrum, wo sich neuere schmucklose Nutzbauten aneinander reihten, fielen mir wieder die sonderbaren Schilder auf, von denen ich bereits am Bahnhof eines gesehen hatte. In dicken Lettern trugen sie Aufschriften wie: Dein Arbeitsplatz – dein Kampfplatz für den Frieden! , oder: Wer fleißig lernt, erreicht auch viel: Der Sozialismus ist das Ziel!
    »Was soll denn das?«, fragte ich Till. »Wer hängt denn hier alle diese Sprüche auf?«
    »Na, die Partei.«
    »Und warum?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Mama sagt, sie will uns auf Schritt und Tritt begleiten.«
    Ich blieb vor

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