Lillys Weg
nach Wien fragte Lea nach ihrer Oma. âWieso steigen wir nicht in Salzburg aus? Sie ist doch auch ganz allein, seit der Papa sie nicht mehr besuchen kann.â Lilly schämte sich. Ihre Abneigung gegen ihre Schwiegermutter hatte die Krise überdauert.
In Salzburg regnete es. Wie schon so oft. Sie rief ihre Schwiegermutter an, die sich sofort beschwerte, dass sie sich nicht rechtzeitig angekündigt hatten. Lilly sah von der Telefonzelle aus auf die Anzeigentafel und hoffte, dass sie in einen der Züge, die regelmäÃig aus Deutschland kamen, gleich wieder einsteigen konnte: âDann besuchen wir dich eben nichtâ, dachte sie, obwohl die nächsten drei Stunden kein Zug fuhr, und änderte ihre Meinung, als sie Leas Gesicht sah.
Das Treffen im Ãsterreichischen Hof , in dem Lilly anschlieÃend die Rechnung bezahlte, war deprimierend. Clarissa war wütend auf Oskar, der ihr nicht erlaubte, sie zu besuchen, und wütend auf Lilly, die ihr nicht sagte, wo er sich versteckt hielt. Sie wandte sich mit verzerrtem Gesicht an Lea und sagte: âUnd wieso weià dieses Kind etwas, was man mir verheimlicht?â Lilly hätte gern gesagt: âWeil dieses Kind hundert Mal emotional kompetenter ist als duâ, aber sie schluckte die Beleidigung hinunter. Lea warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu und antwortete: âOmi, es dauert nicht mehr lange, du musst nur noch ein bisschen Geduld haben. Der Papa wird bald ein Gericht finden, das ihm zuhört, dann können wir ihn gemeinsam besuchen.â
Der Satz, dass man in der Not zusammenhalten muss, war keiner, den die beiden Frauen, die denselben Mann liebten, beherzigen konnten. Die Kluft war schon zu tief. Und so blieb es dabei, dass die Kinder ihre einzige Verbindung waren.
15. September 1988
In Wien ist alles schwierig, ich habe Mühe, mich wieder einzuleben. Mein Bett ist ein einsamer Ort, Oskars warmer Körper fehlt mir. Und es tut weh, ohne Niklas am Tisch zu sitzen. Sein leerer Platz ist wie eine Wunde, die sich nicht schlieÃen will. Meine Entscheidung nagt an mir. Ich weiÃ, dass sein Vater ihn braucht. Er lindert seine Einsamkeit und lenkt ihn von der Trostlosigkeit seiner Lage ab. Niklas ist auch sein Schutzschild. Wer wird schon hinter einem freundlichen Mann, der mit seinem Kind am See entlang radelt, einen gesuchten Verbrecher vermuten? Aber braucht sein Sohn ihn? Oder wird ihm eine Last auferlegt, die seine kleine Seele nicht verkraften kann?
Gestern habe ich mit Oskar telefoniert. Er war noch ganz schockiert darüber, dass er mit Niklas bei seinem wöchentlichen Einkauf im Supermarkt in eine Verkehrskontrolle geraten ist. Sie haben die beiden durchgewinkt, und Niklas hat anschlieÃend seinen Vater gezeichnet, der in einem kleinen roten Auto einem blauen Mann mit Schirmmütze davonfährt.
Gleichzeitig denke ich an Lea, die mir am Tisch gegenübersitzt, und bin froh, dass sie jetzt endlich den Raum bekommt, den ein Kind braucht. Sie war Niklasâ Beschützerin, und jetzt ist ihr kleiner Bruder für eine Weile nicht mehr da. Ich weiÃ, dass ich an ihrer Rolle schuld bin und dass alles viel früher angefangen hat. Ich liebe meine Kinder und gleichzeitig war mir meine Zeitschrift sehr wichtig. Wie oft hatte Lea Niklas an der Hand und fühlte sich für ihn verantwortlich, wenn sie gemeinsam in die Kindergruppe gingen?
Ich spüre meine Trauer, dass es die Wahrheit ist, und meine Erleichterung, dass ich es jetzt ein Stück wiedergutmachen kann.
Ich weià nicht genau, wie es Lea geht. Sie ist wieder fröhlich und genieÃt, dass ich mehr Zeit für sie habe. Aber wie sieht es in ihrem Inneren aus? Wenn ich sie frage, sagt sie: âIch bin sicher, dass es dem Niklas gut geht beim Papa.â
Lea muss lügen. Ich muss lügen. Wir erzählen allen, dass Niklas bei seiner GroÃmutter im Bregenzerwald ist, und ich hoffe, dass das niemand überprüft.
Ich wundere mich, dass ich nicht verhört werde. Sie wissen, dass ich zwei Monate verschwunden war. Wieso fragen sie mich nicht? Ralf hat eine Antwort: âEs ist sinnlos, dich zu verhören. Als Oskars Frau darfst du die Aussage verweigern. Es ist besser, wenn sie dich engmaschig überwachen und du möglichst wenig Verdacht schöpfst.â
Ich schöpfe Verdacht.
Johanna und Rudi sind inzwischen ein Paar. Er wird mir alles über Abhörtechniken erzählen. Ich werde meine Bewacher weiter an der Nase
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