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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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vor, dass Lea und Niklas nicht in den Stockbetten im Wohnzimmer schlafen sollten, sondern in ihrem Ehebett, und dass sie gemeinsam mit Letizia kochten.
    Es gab eine köstliche Fischpastete als Vorspeise, ein Spezialrezept aus dem handgeschriebenen Kochbuch von Mémé, das Lilly geerbt hatte, und einen hervorragenden Coq au vin aus glücklichen Hühnern vom Bauern in der Nähe, den ihre Vermieterin fertig gekocht mitgebracht hatte. Lilly liebte diese Frau, die so gut zu ihnen war, inzwischen fast so wie ihre Oma im Bregenzerwald.
    Als Letizia zum Nachtisch einen selbst gebackenen Schokoladenkuchen auspackte und ihren hausgemachten Likör dazu servierte, nickte Lilly Oskar zu. Es wurde Zeit, die Wahrheit zu sagen.
    Er sah der alten Frau gerade in die Augen und erzählte ihr die Geschichte der Esmeralda . Es wurde ein langer Abend, und als Lilly am nächsten Tag erwachte, fühlte sie sich leichter. Sie hatte eine mütterliche Freundin gewonnen, der sie von nun an das Herz ausschütten konnte.
    Der August ging mit strahlendem Wetter zu Ende und damit auch die Sommerferien. Lilly und Oskar hatten eine Entscheidung getroffen, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das Leben ihrer Kinder stark veränderte.
    30. August 1988
    Ich sehe die beiden am Ende des Weges stehen. Sie winken, und ich registriere ihr Lächeln. Niklas hat den breiten Mund seines Vaters und seine leichten O-Beine geerbt. Sie stehen da, der kleine Kerl eine gelungene Kopie des großen. Oskar hat seinen Arm um seinen Sohn gelegt, als ob er Angst hätte, dass er ihm in letzter Sekunde wegläuft.
    Ich winke zurück und drehe mich ein letztes Mal um, blind vor Tränen. Warum lächeln sie? Wollen sie es uns leicht machen? Oder ist ihnen nicht klar, was dieser Abschied bedeutet? Niklas hat ein Jubelgeheul angestimmt, als wir ihn gefragt haben, ob er bei seinem Papa bleiben will. Er ist noch nicht schulpflichtig.
    Ich fahre in dem Leihauto, das Letizia auf ihren Namen für mich gemietet hat, ohne meinen Sohn nach Hause und Lea ohne ihren Bruder. Es ist das erste Mal, dass wir länger getrennt
sein werden. Lea lächelt nicht. Sie spürt meine Hand, die ihre ­umkrampft, und als ich sie loslasse, weil ich beide Hände am Lenkrad brauche, tut mir mein Herz weh. Hinter mir sitzt eine tapfere, kleine Erwachsene.
    Ich fahre automatisch. Die Straße am Ufer entlang, rechts Tannen, links Tannen, dann durch den Ort und Richtung Autobahn. Meine Gedanken sind bei Niklas.
    War es richtig, ihn bei seinem Vater zu lassen? Bei einem Mann auf der Flucht, der in einer kleinen Blockhütte lebt und täglich Angst hat, dass ihn jemand entdeckt? Einem Mann, der mit ­einem falschen Namen seine Schuhe zum Schuster bringt und dessen Herz fast still steht, wenn er einen Polizisten sieht?
    Ich sehe Lea im Rückspiegel. Sie hat die Augen geschlossen. Es war ein langer, kostbarer Tag gewesen, den wir alle bis zur Neige ausgekostet haben. Der Satz „das letzte Mal zu viert, für lange Zeit“ hatte sich wie eine kaputte Schallplatte, die stecken geblieben ist, in mir festgesetzt. Und jedes Mal, wenn es mir ­gestern mühsam gelungen war, einen glücklichen Moment zu ­produzieren, hatte dieser hässliche Satz ihn sofort wieder zunichte gemacht. Ich schaue kurz in den Rückspiegel, ob Lea schon schläft, und lasse die Wochen mit Oskar noch einmal Revue passieren. Diese Zeit in einem „seltsamen sozialen Biotop“, wie Ralf es nennen würde. Ich vermisse meinen besten Freund. Nicht nur seine Wärme und seine Klugheit, sondern auch seine spitze Zunge. Wenn jemand mich erreicht, ohne dass ich mich kritisiert fühle, dann er. Er wird nicht einverstanden sein, wenn ich ihm erzähle, wie sehr ich mich in diesem Sommer selber zurückgestellt habe. Aber ich habe mich trotzdem erholt. Mein Ausschlag ist weg. Er ist mein Barometer. Wenn meine Hände zu jucken beginnen, weiß ich, dass ich meine Grenzen überschritten habe.
    Ich denke wieder an Oskar, an die Umarmungen, die kleine Sperre der Fremdheit in den ersten Stunden nach unserer Ankunft. An den tapferen Einsiedler, der in seiner Einsiedelei plötzlich von Gefühlen überwältigt wurde. An unseren Versuch, so etwas wie Alltag zu leben. Eine ganz normale Familie zu sein. Gestern waren wir zum ersten Mal in der Kreisstadt in der ­Konditorei am See gewesen. Oskar wollte zum Abschied etwas „Normales“ unternehmen. „Es

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