Lillys Weg
seinem Ufer. Nicht an dem wilden Platz am Rohrspitz, den Lilly so liebte und den sie erst als Erwachsene kennengelernt hatte. Nein, sie saÃen im Bregenzer Strandbad. Mit seinem gepflegten Rasen, den geschnittenen Hecken und der Badeordnung, an die sich alle halten sollten.
Lilly liebte Naturstrände, aber darum ging es heute nicht. Sie musste Lea Erlebnisse an einem See mitgeben, sie hatten fast zwei Monate am Wasser gelebt, und sie sollte in der Schule etwas erzählen können. Jetzt spielte sie mit der Tochter von Annemarie. Annemarie war eine Mellauerin und auf dem Gymnasium ihre Freundin gewesen. Sie hatten sich, nachdem sie vor ein paar Jahren einen Bregenzer Hotelbesitzer geheiratet hatte, aus den Augen verloren. âKomm doch mit Lea ein paar Tage zu uns. Für mich wärâs schön, wenn du Steffi am Nachmittag mit ins Schwimmbad nehmen könntest.â
Lilly fand ihren Stammplatz im Strandbad unter einer der beiden alten, riesigen Trauerweiden, deren Zweige bis ins Wasser reichten. Sie sammelte mit ihren Augen Bilder ein, die Lea in der Schule erzählen konnte: Den täglichen Spaziergang zum Kiosk, wo sie und Steffi ihr Eis kauften, das sie von den FuÃballspielern, die in der Sonne lagen und zu bequem waren, sich ihr Bier selber zu holen, als Lohn bekamen. Das Erlebnis mit dem riesigen Fisch, den der Sohn des Bademeisters gefangen hatte und der bitterlich weinte, als seine Mutter sich weigerte, ihn zum Abendessen zu braten. Die Geschichte von dem kleinen Jungen mit dem Sonnenhut aus Stroh, den Lea gefunden hatte. Er war mit seinen eineinhalb Jahren allein durchs Schwimmbad gewackelt, weil seine Mutter nicht bemerkt hatte, dass er aus seinem Kinderwagen ausgestiegen war.
Lilly schaffte es, auch ein Leben jenseits von Oskar zu leben. Zumindest für diese kurze Zeit. Doch es gab kein Leben jenseits von Niklas. Sie vermisste ihn mit jeder Faser ihres Herzens und war froh, dass Lea durch ihre Spiele mit Steffi abgelenkt war.
Annemarie hatte viel zu tun, das Hotel war noch immer voll, obwohl die Festspielgäste, die jedes Jahr zu Tausenden zum Spiel an den See kamen, schon abgereist waren. Es gab nicht viele Gelegenheiten des Austausches für die beiden Freundinnen aus früherer Zeit. Doch am späteren Abend, wenn die meisten Gäste schon gegangen waren und Lea bei Steffi im Kinderzimmer im obersten Stock des Hotels schlief, fanden sie zu ihrer alten Vertrautheit zurück.
Es war an ihrem letzten gemeinsamen Abend. Annemarie hatte sich am späteren Nachmittag freigenommen und war mit Lilly zu Fuà auf die Fluh, einem kleinen Ort, der nur aus ein paar Häusern und einer Kirche bestand, gewandert. Sie wusste inzwischen, dass Lilly immer wieder mit den Kindern heimlich Oskar besuchte. Als sie nach einem guten Essen im Gasthaus Adler bei einem Glas WeiÃwein saÃen, sagte Annemarie: âWenn du jemals in Vorarlberg jemanden brauchst, der dir dabei hilft, dann bin ich für dich da.â Sie sagte nicht âbei der Fluchtâ, sie hatte schon gelernt, dass Worte verdächtig sind. Lilly sah ihr ernst in die Augen und antwortete: âDu weiÃt, worauf du dich da einlässt?â Und als Annemarie nickte, reifte Lillys nächster Plan.
Sie kannte inzwischen das Hotel und seine Abläufe gut. Die Erforschung von möglichen Fluchtwegen war für sie so selbstverständlich geworden wie Zähneputzen. Sie hatte beobachtet, dass fast täglich ein Wäschereiwagen kam, der ganz nah an einen der Seitenausgänge heranfuhr und die groÃen Säcke Schmutzwäsche einlud. Annemarie hatte erwähnt, dass der Besitzer der Wäscherei ihr Schwager war.
Am Vormittag ihrer Abreise traf sie Markus Längle, ihren Anwalt. Er machte Urlaub in seiner Heimat, und Lilly erzählte ihm, dass sie Oskar und Niklas versprochen hatte, an Weihnachten mit Lea wiederzukommen. Er warnte sie dringend davor: âBist du verrückt? Weihnachten ist die gefährlichste Zeit! Die Ermittler wissen genau, dass hier die meisten Emotionen im Spiel sind, und verstärken ihre Bemühungen. Wenn du Oskar schützen willst, dann musst du darauf verzichten!â Entnervt erwiderte Lilly: âUnd was ist mit Niklas? Soll er ohne mich und seine Schwester Weihnachten feiern?â Markus schoss zurück: âWenn du schon nicht an Oskar denkst, dann denk an deine Kinder. Ein Vater im Gefängnis ist schlimmer, als an Weihnachten getrennt zu sein.â
Im Zug
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