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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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wird nicht auffallen, es sind so viele Touristen hier im Sommer …“ Die Kinder lieben den Zwetschkendatschi, den es dort gibt. Letizia hatte ihn uns manchmal mitgebracht. Wir tranken zur Feier des Tages ein Glas Sekt. Welche Feier? Weil wir wieder nach Wien zurückfahren und ­unsere Familie auseinandergerissen wird?
    Wir standen an einem der Stehtische, als die Bedienung durch den Raum eilte und laut rief: „Herr Moosbrugger, bitte!“ Oskar sagte automatisch: „Ja, bitte?“ Ich wurde rot und erstarrte. Moosbrugger, er hatte auf unseren Bregenzerwälder Familiennamen reagiert, so vertraut war er ihm schon geworden. Oskar sagte schnell zur Bedienung: „Sorry, ich habe Sie falsch ver­standen.“ Ein dicker Mann, der offensichtlich der ans Telefon gerufene Träger des Namens war, sah uns irritiert an, als er sich an uns vorbeizwängte. Niklas und Lea hatten nichts gesagt. Sie kannten den Namen. Sie hatten gelernt, dass sie ihre Zeichnungen für den Papa mit Moosbrugger unterschreiben mussten. Die Zeichnungen hingen in der kleinen Jagdhütte überall an den Wänden. Die Vorsichtsmaßnahme war ursprünglich für Letizia gedacht, Oskar hatte sich bei ihr mit seinem ausgeliehenen Namen vorgestellt.
    Im Rückspiegel sehe ich, dass Lea die Augen wieder geöffnet hat. Jeder in dieser Familie schützt sich auf seine Weise. Ich weiß, dass sie manchmal, wenn sie nicht will, dass ich ihre Gefühle ­mitbekomme, so tut, als ob sie schläft. Sie sitzt so ernst und blass hinter mir, dass ich einen hilflosen Versuch mache, sie zu trösten: „Lass uns etwas singen“, schlage ich mit munterer Stimme vor. Lea sagt ganz leise: „Ich vermisse den Papa und Niklas, ich mag nicht singen.“
    Ich fahre weiter, und meine Tränen tropfen auf meinen Pullover. Es dauert eine Weile, bis ich sagen kann: „Ich auch, Lea.“ Sie gibt keinen Laut von sich, und ich weiß, dass sie ihr Schluchzen unterdrückt, um mich zu schonen.
    Die Autobahn ist fast leer. Ich halte bei der nächsten Rast­möglichkeit an. Es gibt keine anderen Autos. Ich hole Lea vom Rücksitz und trage sie wie ein Baby zu einer der beiden Bänke, die am Waldrand stehen. Ich halte sie im Arm, und dann weinen wir beide. Wir haben noch nie gemeinsam geweint.
    Ich fühle mich so trostlos und verzweifelt wie schon lange nicht mehr. „Du bist ein Leuchtturm in dieser Welt, genährt vom göttlichen Licht.“ Ich höre den Satz und weiß, dass die Naturwesen ihn geschickt haben. Lea braucht eine starke Mutter.
    Lilly richtete sich auf. Sie spürte, wie die Energie ihre Wirbel­säule stärkte und putzte sich entschlossen die Nase. Dann lächelte sie ihre Tochter zärtlich an: „Wir kehren jetzt um und fahren nicht nach Wien, wir fahren zur Oma.“ Lea lächelte unter Tränen zurück, sie liebte ihre Oma über alles.
    Eigentlich sollte das Auto am Abend in Wien zurückgegeben werden, Ralf wartete in der Redaktion auf sie, und ihre Tochter sollte sich zu Hause noch einleben können, ehe die Schule ­begann. Das war der Plan gewesen. Sehr logisch, aber im Augenblick nicht durchführbar. Sie brauchten jetzt keine leere Wohnung, voll von Erinnerungen an Oskar und Niklas. Sie brauchten Trost, und den gab es im Bregenzerwald.
    Es wurde eine lange Nacht in den Bergen. Lillys Mutter und Ella warteten schon auf sie, als sie am späteren Nachmittag in Bregenz ankamen, wo sie das Auto zurückgab. Dann fuhren sie mit Ellas Jeep aufs Vorsäß. Nicht weit von dort hatte sie ihren Schwitzhüttenplatz mit einer Feuerstelle. Es war ihre Idee gewesen: „First Nations“, das war der Name, mit dem die Indianer angesprochen werden wollten, „erzählen ihre Geschichten immer am Feuer. Außerdem kann uns dort niemand abhören.“
    Lea schlief, in eine warme Decke gehüllt, im Arm ihrer Großmutter, und Lilly, mit dem Geruch des Heiligen Salbeis in der Nase, den Ella verbrannte, vertraute wieder darauf, dass alles gut wird. In dieser gewaltigen Natur, in der ihr Leben wie ein kleiner Funke war, nahmen die Dramen, die sie erlebte, einen anderen Platz ein. Einen, der ihnen zukam im großen Gefüge.
    Wer das Meer liebt, liebt auch den Bodensee. An manchen Tagen, wenn der Dunst den Horizont verschleiert, entsteht die Illusion einer nie enden wollenden Weite. Die drei Frauen und das Kind saßen am nächsten Tag an

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