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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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Tag ist es noch leichter, da leuchtet nur ein Alarmlicht auf. In der Nacht gibt es zusätzlich den Alarmton, und dann wird der arme Postler aus dem Schlaf gerissen und rennt durch die Gestellreihen, um den Anschluss zu finden. Wenn wir vier oder fünf Zielpersonen zu überwachen haben, was häufig vorkommt, dann rennen wir wie die Blöden ständig durch den Saal. Technisch könnten wir das viel listiger lösen. Aber nachdem die Post Steinzeitmethoden bevorzugt und der Eingriff in dienstlich zugewiesene Gerätschaften verboten ist, spielen wir noch immer ‚lauf, Postler, lauf‘. Das verschafft dir einen Vorteil. Du kannst davon ausgehen, dass du sechzig Sekunden Zeit hast, bis der Beamte das Tonband eingeschaltet hat. Das merkst du daran, dass es knackt. Von diesem Moment an darfst du nur noch Belang­losigkeiten reden, und wenn du nicht willst, dass deine Anrufer identifiziert werden können, dann telefoniere niemals mit deinem abgehörten Telefon, weil meistens zusätzlich eine Rück­verfolgung der Gespräche angeordnet wird. Das dauert je nach Betriebssystem im Amt zwischen zwei und fünf Minuten.“
    Rudi war so in Fahrt, dass er vergaß, dass hier keine Exper­tinnen vor ihm saßen, und erklärte im Detail den Unterschied zwischen einem 48er-Wählsystem und dem moderneren OHS. „Wir in Floridsdorf arbeiten noch mit dem altmodischen 48er, ich werde einen Kollegen in deinem Wählamt anrufen, dann wissen wir, wie viel Zeit du hast, bis ein Gespräch rückverfolgt werden kann.“
    Und er war nicht aufzuhalten. „Das mit den Wanzen ist komplizierter. Dazu müssen sie in deine Wohnung hinein. Das ist aber auch kein Problem. Das Haus wird observiert, um deine Gewohnheiten kennenzulernen. Dann kommt ein Spezialist, öffnet dein Schloss, und schon bist du verwanzt. Wir werden später zu dir hinübergehen und deine Räume untersuchen. Es gibt ein paar Lieblingsplätze für die kleinen Tierchen.“
    Die Nachspeise gab es aus strategischen Gründen bei Lilly. Sie aßen Mousse au Chocolat nach einem alten Rezept von Mémé, dann legten sie eine CD von Tanita Tikaram ein, und die beiden Frauen sangen und tanzten laut und ausgelassen. Bei der Stelle „different thoughts are good for me“ brüllten sie besonders laut mit, der Satz war für die Abhörer gedacht. Währenddessen untersuchte Rudi in aller Ruhe die Wohnung. Lilly beobachtete ihn, während sie sich zur Musik bewegte, und war beeindruckt, wie seine sonst etwas ungelenken Bewegungen vollständig verschwunden waren. Sein ganzer Körper war geballte, gut koordinierte Konzentration. Wenn er eine Wanze fand, machte er ihnen begeistert mit dem Daumen das Okay-Zeichen. Niemand sprach. Es war ein absurdes Bild. Ein Mann stand auf einer Leiter und starrte auf die Deckenbeleuchtung, während zwei Frauen ihn in einem wilden Tanz umrundeten.
    Alle drei Kinder waren heute bei Tilde. Sie hatte eigentlich zu wenig Platz für die Rasselbande, aber das improvisierte Matratzenlager mit Pizzaservice war ein Abenteuer, zu dem sie nicht Nein sagen konnte. Sie war nicht in die Details von Lillys Plänen eingeweiht, aber wenn ihre Augen sich begegneten, tauschten sie Botschaften aus.
    Die Wanzen blieben, wo sie waren. Es genügte Lilly, dass sie den feindlichen Posten, wie Rudi es nannte, enttarnt hatte. ­Außerdem konnten sie von nun an gezielt falsche Meldungen verbreiten. Das Badezimmer war der Besprechungsraum, hier gab es keine Wanze. Rudi empfahl ihr, immer zur Sicherheit gleichzeitig die Dusche anzustellen.
    Als Johanna und Rudi gegangen waren, setzte sich Lilly aufs weiße Sofa und öffnete den ersten Brief von Oskar. Rudi hatte in Floridsdorf ein Postfach eingerichtet, und Letizia hatte sich bereit erklärt, seine Briefe mit nach München zu nehmen, damit, falls die Finte aufflog, der Poststempel die Fahnder nicht an den See führte.
    Mein Lieb,
    es gibt keinen Tag, wo ich nicht tausendmal an Dich denke und Dich vermisse. Der Moment, als Du mit Lea im Auto weggefahren bist, hat mir fast das Herz gebrochen. Auch für Niklas war es eine Zeit lang schwer. Vor allem am Abend. „Ich will zur Mama“, hat er gesagt, „ich will, dass sie mir eine Gutenachtgeschichte erzählt.“ Ich kam mir so egoistisch vor, dass ich ihn bei mir behalten habe! Gleichzeitig bin ich sicher, dass er in einem Alter ist, wo er den Kontakt zu mir

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