Lillys Weg
herumführen, und inzwischen macht es mir sogar manchmal SpaÃ. âMa moà das Bescht drus machoâ 11 , Mutters Leitsatz kommt mir wieder einmal zugute.
In der Redaktion war der Berg der Berichterstattung über das Verschwinden von Paolo Vicente und Oskar Baldini so gewachsen, dass Ralf inzwischen mehrere Ordner mit unterschiedlichen Inhalten angelegt hatte. Lilly nahm sich zuerst den mit dem Titel âOskar und der Fallâ vor und las nach, was die Medien den Sommer über geschrieben hatten. Es hatte sich inzwischen, wie bei fast allen interessanten Themen, eine Gruppe von Spezialisten gebildet. Zwei von ihnen hatten sich ganz besonders in den Skandal verbissen.
Lilly merkte, wie ihr Ausschlag, den sie fast schon vergessen hatte, wieder anfing zu jucken, während sie las. Ralf kam herein und sagte, als er sah, dass sie sich an ihren Händen kratzte: âErspar dir den Müll, lies lieber, was sie über dich schreiben.â
Er gab ihr den Ordner, auf dem âLilly und der Fallâ stand, und wies nicht darauf hin, als er das Zimmer wieder verlieÃ, dass sie mindestens zehnmal das Foto wiedersehen würde, auf dem sie sich glückstrahlend vor dem Landesgericht auf den Armen von Paolo und Oskar zeigte. Es war eines der Lieblingsbilder der Fotoredaktionen, wenn es um Lilly ging, und die Berichterstattung teilte sich in zwei Lager. Die einen verurteilten sie, dass sie einem gesuchten Kriminellen die Stange hielt, die anderen lobten sie dafür, dass sie zu ihrem Mann stand. Auch wenn es für die meisten keinen Zweifel gab, dass an den Vorwürfen etwas dran war. Sie las mehrfach die Ãberschrift âWo ist Frau Baldini?â und âPolizei versagt, Oskar Baldini mit seiner Frau auf der Fluchtâ.
Es gab erfundene Herzschmerz-Geschichten, als ob die Gazetten dabei gewesen wären, als sie sich in die Arme gefallen waren. Lilly war eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens geworden, auch wenn die Umstände wenig schmeichelhaft waren. Sie saà verloren an ihrem Schreibtisch, der ihr seltsam fremd vorkam, und merkte, dass die zwei Stunden, die sie mit âdem Fallâ verbracht hatte, ihr den Boden unter den FüÃen weggezogen hatten. Es war fast noch einfacher, mit Oskar auf der Flucht zu sein, als sich den Vorverurteilungen und der Häme auszusetzen, die ihr hier begegnete. Wo würde das alles hinführen? Während sie mit ihrer Familie an den unterschiedlichen Fluchtorten Alltag spielte, wurde in Ãsterreich neues Belastungsmaterial produziert. Sie glaubte Oskar, dass er kein Schiff in die Luft gesprengt hatte. Aber was war stattdessen passiert? Er musste sie endlich ins Vertrauen ziehen. Die Ungewissheit war grausamer als jede Wahrheit.
Als Marion, die Redaktionsassistentin, hereinkam und sie fragte, ob sie schon eine Entscheidung getroffen hatte, was sie schreiben wollte, kehrte sie mit ihren Gedanken âvom Fallâ zu ihrer Zeitschrift zurück. Das letzte Heft war vollständig ohne sie über die Bühne gegangen, nun stand bereits die Produktion des nächsten an. Sie nahm die Liste der Themen, die in der Konferenz vorgeschlagen worden waren, in die Hand. Lilly merkte, dass sie sich für nichts wirklich interessierte. Sie stand auf und ging zu Ralf hinüber, der sich mit heiÃem Wasser aus seinem Âeigenen Kocher gerade eine Tasse Tee machte. Er war zu bequem, jedes Mal die Küche aufzusuchen, und hatte in seinem Zimmer eine luxuriöse Tee-Ecke etabliert. Es gab feine Tässchen aus ÂChinaporzellan oder robuste Becher, und seine Gäste konnten zwischen mehr als zehn Sorten Tee wählen, die in schwarzen Blechdosen mit bunten Blumenmustern luftdicht verschlossen wurden.
âSoll ich dir einen Kaffee holen?â, fragte er, als er ihr Gesicht sah. Lilly nickte. Ralf hatte ihr schon viele Vorträge darüber gehalten, wie ungesund ihr Lieblingsgetränk sei, ihr geschildert, wie es ihren armen Körper übersäuerte. Es hatte sie bisher nicht beeindruckt. Sie war sich sicher, dass Kaffee ihren viel zu niedrigen Blutdruck regulierte, und versorgte sich eher nach dem Lust- als nach dem Gesundheitsprinzip. Seit Lillys Leben seine Leichtigkeit verloren hatte, war auch das Geplänkel zwischen ihnen eine Seltenheit geworden. Als er die Tasse vor ihr abstellte, läutete der altmodische Wecker, der von seinem GroÃvater stammte und auf seinem Schreibtisch stand. Sie stand auf und wollte
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