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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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wieder gehen. Doch Ralf hielt sie zurück: „Bleib, ich kann meine Achtsamkeitsübung später machen.“
    Lilly bewunderte seine Gewohnheit, alle vier Stunden zu überprüfen, ob die Qualität der Zeit, die er verbrachte, zu ihm passte. Er fragte sich täglich mehrmals, ob er noch auf seiner Spur war, ob seine Tätigkeit ihm in diesem Augenblick entsprach und gleichzeitig seinen höheren Zielen diente.
    â€žDu kannst dir mit etwas Achtsamkeit viel Müll in deinem Leben ersparen“, hatte er zu Lilly gesagt, wenn sie wieder einmal, wie er es nannte, „gesprungen war, bevor sie nachgedacht hatte“. Eine Weile hatte sie dann versucht, ihr Leben auf seine Weise zu regulieren. Mit dem Effekt, dass sie sich kontrolliert und eingesperrt vorgekommen war. Seit sie in den Fall verwickelt war, hatte sich ihre Spontaneität gelegt. Sie konnte sich nicht mehr leisten, in den Tag hineinzuleben. Es gab viel zu viel, was sie bedenken musste.
    â€žRalf, ich muss zuerst, bevor ich die nächste Geschichte starte, mein Leben organisieren. Ich muss alles darüber wissen, wie ich abgehört werde.“ Ralf nickte: „Warum schreibst du nicht eine Geschichte über die verwanzte Stadt? Wenn wir berücksichtigen, was es für die Psyche der Menschen bedeutet, wenn sie in ständiger Unsicherheit und Psychoterror leben, könnte das ein gutes Thema für uns sein.“
    Lillys Lethargie war mit einem Schlag weg. Sie hatte wieder etwas, in das sie sich verbeißen konnte. Sie freute sich auf das Gespräch mit Rudi. Er würde einer ihrer Informanten sein, auch wenn sie ihn selbstverständlich schützen würde.
    Johanna hatte gekocht. Sie saßen zu dritt in ihrer gemütlichen Wohnküche in der Berggasse, die von Lillys Wohnung zu Fuß eine Viertelstunde entfernt lag, und aßen einen köstlichen Tafelspitz mit Blattspinat und Kartoffelrösti. Rudi hatte vor dem ­Essen überprüft, ob es Wanzen gab, und kam mit einem breiten Grinsen zurück: „Sie sind nicht listig genug. Ich verstehe nicht, warum sie dich nicht auch abhören.“ Rudi liebte das Wort listig. Er verwendete es selten widmungsgemäß, und Lilly hatte inzwischen verstanden, dass „listig“ so ziemlich alles bedeuten konnte. Dass etwas interessant war, dass er sich wunderte, dass jemand besonders geschickt war.
    Beim Essen erzählte Lilly von ihrer Zeit am See und nannte auch vor ihren Freunden seinen Namen nicht. Sie wollte, dass er in ihrer eigenen Erinnerung so verblasste, dass sie ihn selbst im Schlaf nicht wusste.
    Dann ging Rudi auf den Balkon, rauchte eine Zigarette und kam, wie zu einem neuen Auftritt, in seiner Rolle als Beamter der Post zurück. Es störte ihn nicht, dass er Betriebsgeheimnisse ausplauderte. „Man muss wissen, wo man hingehört“, hatte er gesagt, als Lilly ihn gefragt hatte, ob er es sich leisten konnte, mit ihr befreundet zu sein. Dann spitzte er seinen Mund auf eine ganz bestimmte Weise, so wie andere ihren Bleistift spitzen, bevor sie etwas Wichtiges schreiben wollen, und sagte langsam und bedächtig: „Es beginnt so: Jemand vom Gericht ruft bei uns an und erteilt einen Auftrag zur Telefonüberwachung. Weil das meistens schnell gehen muss, kommt die schriftliche Anweisung erst später. Hier ist übrigens schon die erste Stelle, wo die Bürger viel zu wenig vor illegalen Übergriffen geschützt werden. Von dem Moment an wird in der Post alles aufgezeichnet, was von diesem Anschluss aus gesprochen wird. Dazu brauchen wir nicht einmal das Haus zu verlassen. Das funktioniert alles intern.“
    Rudis Arme und Hände hatten vor Begeisterung ver­gessen, dass sie normalerweise nicht so recht wussten, wie sie sich gut koordinieren konnten, und bewegten sich sicher und prä­zise, als sie den Wählersaal, einen Raum, häufig in doppelter Turnsaalgröße, und die Gestellreihen mit den Wählern dar­stellten. „Ein Wähler ist ein technisches Gerät, das einem Te­lefonanschluss zugeordnet ist, und jedes Wählamt hat etwa ­dreißigtausend solcher Anschlüsse zu betreuen. Wir beheben Störungen, und wenn jemand abgehört werden soll, dann schließen wir einfach an die betreffende Telefonnummer ein Tonbandgerät an. So weit, so gut. Das Problem ist, dass wir jedes Mal, wenn von diesem Anschluss telefoniert wird, hinstürzen müssen, um das Tonband einzuschalten. Am

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