Lillys Weg
braucht und auch genieÃen kann. Inzwischen sind wir ein Herz und eine Seele und leben wie zwei Trapper in der Wildnis. Das Wetter ist hier für Ende Oktober noch sehr schön, und wir fahren fast täglich mit dem Kajak auf den See, fangen Fische und braten sie am Abend vor der Hütte am LagerÂfeuer. Die meisten Nahrungsmittel holen wir uns mit den Rädern von den Bauern aus der Umgebung, und am Abend kochen wir Marmelade von dem Obst ein, das wir von den Apfel- und Birnbäumen in Letizias Garten pflücken. Niklas ist auch ein sehr geschickter Handwerker geworden. Wir reparieren bei uns und bei Letizia alles selber. Vom Wasserhahn bis zur Schublade, die klemmt.
Gestern haben wir begonnen, Krippen zu bauen. Letizia will sie für uns auf den Weihnachtsmarkt der Pfarre bringen, das kommt einem guten Zweck zugute.
Manchmal tue ich mir schwer, Niklas zu erziehen. Er ist ziemlich eigenwillig, und wenn er etwas nicht machen will, habe ich keine Chance. Wie hast Du das geschafft? Aber vielleicht geht es gar nicht darum, ihn zu erziehen. Wenn ich nicht an ihm ziehe und ihn einfach sein lasse, ist er das bravste Kind. Ich bin Dir sehr dankbar, dass ich mit unserem Sohn leben darf. Mir geht es viel besser, seit ich diese wunderbare Aufgabe habe. Und ich vermisse Lea sehr.
Nächste Woche machen Niklas und ich eine Reise nach Kiel, es liegt nördlich von Hamburg am Meer. Dort gibt es einen Anwalt, den ich besuchen will. Er ist ein berühmter StrafÂverteidiger und an unserem Fall interessiert. Ich weiÃ, dass
es riskant ist, das ganze Land zu durchqueren. Aber ich habe keine andere Wahl. Wir werden vorsichtig sein. Letizia wird ein kleines Wohnmobil für uns mieten, dann sind wir relativ sicher. Kannst Du etwas über Paolo erfahren? Ich frage mich, was aus ihm geworden ist.
Ich hoffe, dass ihr es schafft, an Weihnachten zu kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, mit Niklas ohne Euch vor dem Christbaum zu stehen. Ich zähle die Tage, bis ich Dich wieder in die Arme schlieÃen kann, und umhülle Dich und Lea mit meiner Liebe,
Dein Mann für immer.
Oskar
Lilly faltete die Zeichnung auseinander, die Niklas für sie und Lea dazugelegt hatte. Eine vierköpfige Familie stand vor einem kleinen Haus. Die Blumen an den Seiten waren fast so groà wie die Menschen, und die Sonne beugte sich tief vom Himmel herunter, sodass ihre Strahlen die Köpfe berührten. In seiner groÃen, runden Schrift hatte ihr Sohn âNiklas Moosbruggerâ an den rechten unteren Rand geschrieben.
Es war seine Unterschrift, die Lilly endgültig aus der Fassung brachte. Sie war alleine und konnte es sich leisten, einfach aus sich herauszubrüllen: âIch halte es nicht mehr aus! Ich will mein Kind zurück, ich will, dass der Albtraum aufhört, ich will mich nicht mehr fürchten, ich will mich nicht mehr verstecken!â
An diesem Abend beschloss Lilly, dass sie Kristina treffen wollte. Sie brauchte jemanden, der in einer ähnlichen Lage war wie sie.
Kristina freute sich über ihren Anruf. Lilly hörte es an ihrer Stimme. Sie war am Semmering und lud die ehemalige Geliebte ihres Mannes ein, zu kommen. Oder hatte sie damals vielleicht doch nichts gewusst?
Der erste Teil ihrer Fahrt war wie aus dem Film Und täglich grüÃt das Murmeltier , in dem sich die Szenen immer wiederÂholen. Sie fuhr nervös die vielen Serpentinen auf den Semmering. Das Haus überraschte sie wieder, weil es zur Landschaft, aber nicht zu Paolo passte.
Kristina erwartete sie in der Haustür, ihr weiÃblondes Haar war zu einem losen Knoten hochgesteckt, ihr feines, blasses, fast altersloses Gesicht mit den hellblauen Augen strahlte eine Güte aus, die Lilly wieder die Schamröte ins Gesicht trieb. âWie konnte er diese Frau mit mir betrügen, unfassbar!â, dachte sie. Als hätte sie ihre Worte gehört und wollte sie beruhigen, breitete Kristina die Arme aus und sagte mit einer tiefen, warmen Stimme: âWillkommen, wie schön, dass Sie da sind!â
Damit war der alte Film zu Ende, weil Paolo fehlte. Es war seltsam, dass er nicht hinter ihr auftauchte und den Biedermann spielte. Als ob Kristina wieder mitgehört hätte, sagte sie: âIch vermisse ihn, es ist so leer hier ohne ihn.â
Sie saÃen am Kamin am offenen Feuer und sprachen über alles, aber nicht über ihre Männer. Nach dem einfachen Abendessen, das sie gemeinsam zubereitet hatten, nahmen
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