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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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der Grabsteine, deren Inschriften oft traurige Geschichten erzählten, begeistert. Sie hatte eine gute Beziehung zu Friedhöfen, auch wenn der Tod sie erschreckte. Ihre Oma hatte sie immer zum Familiengrab in Mellau mitgenommen: „Du musst dich mit der Ahnenkraft verbinden, mein Kind, da kommt unsere Stärke her. Die Gräber sind nur ein Symbol für uns, damit wir uns erinnern. In Wirklichkeit sind die Ahnen überall in unserem Alltag. Wir dürfen sie nicht auf Friedhöfen und in Fotoalben einsperren.“
    Ihre Mutter ging zielstrebig über die kiesbestreuten Wege und wurde langsamer, als sie in ein Areal kamen, in dem viele kleine Gräber standen. „Das ist der Babyfriedhof“, sagte sie leise und blieb einen Augenblick stehen. „Hier dürfen nur Säuglinge begraben werden, die tot geboren werden. Wir müssen noch ein Stück weiter.“ Lilly spürte plötzlich einen Druck auf der Brust, und ihre gute Beziehung zu Friedhöfen war vorbei. Es war ihr unvorstellbar, dass ihre süße, kleine, warme Tochter hier liegen könnte. Sie blieb einen Augenblick bei einem der kleinen Gräber stehen. Der weiße Stein trug nur ein Datum und ein buntes Windrad bewegte sich langsam im Wind. Das Leid hatte nicht einmal einen Namen.
    Ihre Mutter zog sie am Ärmel: „Lass uns weitergehen, deine Tochter ist gesund und lebt.“ Dann blieb sie, nach ein paar Minuten, am Ende einer langen Reihe stehen: „Da liegt sie. Elisabeth ist meine Zwillingsschwester, und ich habe bis heute nicht ganz überwunden, dass sie tot ist. Es ist noch immer so, als ob ich niemals vollständig sein könnte ohne sie.“
    Lilly war so überrascht, dass sie eine Weile einfach nur dastand und nichts sagen konnte. Das Grab war sehr gut gepflegt, Rosen, Lavendel und Efeu waren gute Nachbarn füreinander. Ein großer Schutzengel aus weißem Marmor hielt eine Tafel mit der Inschrift in der Hand: „Hier liegt Elisabeth. Unsere Freude, un­ser Leben.“
    Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: „Mama, sie heißt ja so wie ich!“
    â€žJa, ich wollte, dass etwas von ihr bleibt, und dein Vater war einverstanden damit. Doch als du geboren warst, wurde ich jedes Mal traurig, wenn ich deinen Namen sagte. Also haben wir dich umbenannt.“ Lilly hatte bisher immer geglaubt, dass sie ihren Namen ihrer geliebten Bregenzerwälder Oma, die ebenfalls Elisabeth hieß und Else genannt wurde, verdankte.
    Mutters Zwillingsschwester war nur sieben Jahre alt geworden. Sie setzten sich auf eine Bank in der Nähe, und Lilly erfuhr die Geschichte ihrer Tante, deren Namen sie trug.
    â€žWir waren eine arme Familie. Es gab kein Geld und wenig zu essen, weil wir Fleisch, Käse, Eier und Milch an die Städter verkaufen mussten. Meinen ersten eigenen Rock, den noch niemand vor mir getragen hat, habe ich an meinem ersten Schultag bekommen. Im Sommer schliefen wir im Stadel im Heu, weil unser Kinderzimmer an die Fremden, die unser Einkommen verbesserten, vermietet wurde. Eines Tages kam ein kinderloses Ehepaar aus Wien, das an uns einen Narren gefressen hatte. Sie waren auch im nächsten Jahr wieder da und schlugen meinen Eltern vor, dass sie uns mitnehmen wollten, damit wir ein besseres Leben haben sollten. Meine Mutter wollte nicht, aber mein Vater hat sie überredet: ‚Das sind wir den Kindern schuldig. Was soll aus ­ihnen in diesem armen, gottverlassenen Dorf werden? Und mir hat es auch nicht geschadet.‘ Mein Vater war ein sogenanntes Schwabenkind gewesen. Er gehörte zu den Tausenden von Kindern, die aus den armen Bergbauerndörfern Tirols, Vorarlbergs, Südtirols und der Schweiz im Frühling, wenn es auf den Bergen noch Schnee gab, zu Fuß unter härtesten Bedingungen ins Schwabenland zur Arbeit geschickt wurden. Er war erst sechs Jahre alt, als er das erste Mal von zu Hause fort musste. Auf den süddeutschen Kindermärkten, mein Vater kam nach Ravensburg, haben schon die reichen Bauern auf sie gewartet, die die Kinder für Kost, Unterkunft und eine Garnitur neuer Kleider als Saisonarbeiter aufgenommen haben.
    Ich sehe noch heute den Tag vor mir, als unsere Eltern uns bis nach Bezau begleitet haben. Wir saßen in der Bahnhofswirtschaft und aßen Gulasch. Meine Mutter war schweigsam und schluckte ihre Tränen hinunter. Mein Vater erzählte uns die Geschichte von der „Gulaschmarie“, der Vorbesitzerin, die als junges

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