Lillys Weg
Mädchen nach dem Tod ihrer Eltern so mutig war, den Vorurteilen zu trotzen, und das Wirtshaus weitergeführt hatte. Für uns Kinder war es wie eine Henkersmahlzeit. Wir wollten nicht mit nach Wien, aber Elisabeth war so still und brav, und ich war so wild und ungezähmt. Ich habe, als sie uns zwangen, in den Zug zu steigen, so lange gebrüllt, bis meine Mutter es nicht mehr aushielt, und meine Pflegeeltern mich wieder aus der Wälderbahn, die bis nach Bregenz fuhr, aussteigen lieÃen. Ich habe Tag und Nacht um meine Zwillingsschwester geweint. Wir waren seit unserer Geburt noch nie auch nur eine Minute getrennt gewesen. Ein Jahr später war sie tot. Ich habe sie nie wiedergesehen. Sie starb an Scharlach, und ihre Pflegeeltern waren untröstlich. Sie hatten sie wie eine eigene Tochter geliebt und wollten sie auch nach ihrem Tod in ihrer Nähe haben. Begräbnisse sind teuer. Meine Eltern haben zugestimmt, und die beiden haben bis zu ihrem eigenen Tod das Grab gepflegt.â
Lillys Mutter stand auf, nahm ihr Lea ab, die erwacht war und auf ihrem Schoà saÃ, und ging mit ihrer Enkeltochter noch einmal zum Grab: âSie gehört zu uns, Lea, ich möchte, dass du von ihr weiÃt. Sie soll nicht vergessen werden.â
Lilly konnte in der Nacht nicht schlafen. Sie erinnerte sich plötzlich, dass ihre GroÃmutter ihr auf dem Friedhof in Mellau eines Tages ein Kindergrab gezeigt hatte: âEs gab noch ein Mädchen, das Grab ist leer, es liegt woandersâ, hatte sie in ihrer kargen Art gesagt und ihr Gesicht verschlossen. Lilly hatte zu ihr aufgeschaut und nichts gesagt. Wenn die Oma ihren Mund Âschmal machte, waren Fragen nicht erlaubt. Sie trug den Namen ihrer verstorbenen Tante. Vielleicht war sie deswegen so eng mit Mutter verbunden? Hatte sie überhaupt einen eigenen Platz? Sie verdrängte den Gedanken und beschloss, es nicht mit Ralf zu besprechen. Er war durch seine Ausbildung, die er gerade absolvierte, ganz vernarrt in die Welt der Systeme und hatte ihr schon mehrfach zu einer Familienstrukturaufstellung geraten.
Der erste Urlaub mit Lea war eine Auszeit vom Alltag, in der vorübergehend alle Probleme vergessen waren. Es war klar für Lilly, dass Lea dabei sein sollte, auch wenn Ralf ihr ungebeten einen kleinen Vortrag hielt, dass es höchste Zeit wurde, den Unterschied zwischen Paar und Eltern verstehen zu lernen. âIhr seid nur noch als Eltern unterwegs, wie soll das auf Dauer gut gehen? Das Paar braucht dringend einen Urlaub.â
Als sie nach drei Wochen aus Kreta zurück waren, bemerkte Lilly, dass sie wieder schwanger war. Sie hatte mit einer Spirale verhütet, aber ihr zweites Kind hatte diesen Hindernisparcours mühelos überwunden. Sie freuten sich beide, und Oskar kochte zur Feier des Tages eines seiner berühmten kulinarischen Highlights. Die Einzige, die merkwürdig reagierte, war Sybille: âDass du unter diesen Umständen ein zweites Kind in die Welt setzt?â Lilly nahm keine Notiz davon. Sie war sich sicher, dass die Geschichte mit dem Schiff ein gutes Ende nehmen würde.
Niklas wurde geboren, als Lea zweieinhalb Jahre alt war. Lilly war, so wie bei Lea auch, eine glückliche Schwangere gewesen. Sie liebte ihren dicken Bauch und fühlte sich rundum wohl. Das Einzige, was diesmal anders war: Oskar und sie hatten kaum Sex miteinander. Aber sie war zu beschäftigt, um sich darüber zu wundern. Sie hatte sich als einen der beruflichen Schwerpunkte âKinder im Krankenhausâ gesetzt und schrieb mit groÃer Leidenschaft gegen die Brutalität an, dass Kinder plötzlich in fremden Betten lagen, von fremden Menschen betreut wurden und meist, weil sie zu klein waren, um es zu verstehen, nicht wussten, dass ihre Eltern wiederkommen würden.
Lea lag noch immer bei ihren Eltern im Bett. Lilly wusste, dass es falsch war, aber weil Oskar so oft verreist war, hatte sich die schlechte Gewohnheit erhalten. Als Niklas da war, konnten sie ihre Prinzessin, die ihre Eltern jetzt mit ihrem Bruder teilen musste, erst recht nicht in ihr Kinderzimmer verbannen. Und so war es Oskar, der ins Kinderzimmer umzog.
Niklas war ein Jahr alt, als Lilly die beiden sah. Tilde war bei den Kindern und sie nahm die Gelegenheit wahr, in der Redaktion früher Schluss zu machen, um am Naschmarkt einzukaufen. Als Junggesellin war sie oft hier gewesen und hatte in den Tausenden von Düften und Bildern geschwelgt. Obst und
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