Lillys Weg
haben, und ich bin sicher, dass du müde bist und gehen möchtest.â
Am nächsten Tag fuhr Lilly mit den Kindern nach Mellau. Sie brauchte dringend eine Umgebung, in der sie geliebt und geschätzt wurde. Sie kam am späteren Nachmittag an, überlieà Niklas seiner GroÃmutter und nahm Lea mit. Sie setzte sie in ihren Kindersitz schräg hinter sich und fuhr Richtung Damüls. Sie wollte von einem Bauern, der selber schlachtete und räucherte und dessen Frau das beste Brot im Bregenzerwald buk, für die Tage bis zum Jahresende ein paar Leckerbissen kaufen. Ihre Gedanken waren wie immer bei Oskar. Er würde mit Sybille ins neue Jahr tanzen, da war sie sich sicher. Er hatte nichts gesagt, und sein Schweigen hatte ihre Hoffnung zunichte gemacht, dass er vielleicht nach Mellau zu ihr und den Kindern kommen würde. Wann würde der Gedanke an Oskar endlich nicht mehr wehtun? Wie schafften es andere Frauen, sich einen Mann aus ihrem Herzen zu reiÃen, den sie noch liebten?
Sie sah das Auto viel zu spät kommen und hatte keine Chance mehr, rechtzeitig zu bremsen. Es raste von der rechten Seite mit hoher Geschwindigkeit aus einer schmalen StraÃe heraus. Lilly hörte ihren eigenen Schrei, dann ein Krachen, und als alles vorbei war und sie mit Lea im Arm am StraÃenrand stand, der Renault 5 ein rauchender Trümmerhaufen, wusste sie, dass so Wunder aussehen. Der junge Mann, der sich wohl aus Liebeskummer betrunken hatte, hatte sie voll gerammt. Er saà am StraÃenrand, den Kopf in die Hände gestützt, weinte bitterlich und rief nach einer Waltraud. Niemand war verletzt. Eine Sekunde früher, und sie wären wahrscheinlich tot gewesen.
Am nächsten Morgen folgte sie dem alten Familienritual und machte sich auf, der Muttergottes von Bildstein zu danken. Sie war schon als Kind mit ihrer Mutter und ihrer Oma von Schwarzach zur kleinen Kapelle hinter der groÃen weiÃen Basilika, die das Rheintal überschaute, gewandert. Heute schneite es, und sie waren die Ersten, die eine neue Spur auf dem schmalen Weg zogen. Lea und Niklas jubelten, als sie trotzdem die Stelle fanden, an der der Teufel ausgerutscht war, als er die Muttergottes verfolgt hatte, und ihre GroÃmutter lächelte in sich hinein. Die Legende von dem Stein mit den Abdrücken der Teufelsklaue war von Generation zu Generation weitergegeben worden.
Lilly spürte den Neubeginn in jeder Faser ihres Körpers. Der Unfall und die Nähe zum Tod hatten sie von ihrer unglücklichen Liebe distanziert. Vielleicht noch nicht befreit. Aber es war etwas geschehen, was dem Wunder des Ãberlebens eine andere Dimension hinzufügte: Es gab plötzlich einen groÃen Raum, der Lilly zur Verfügung stand und der ihr alleine gehörte. Sie gab ihm die Ãberschrift âMein neues Lebenâ.
Als sie nach einem heiÃen Tee im Dorfgasthaus mit ihrer Mutter, Lea und Niklas in der kleinen Kapelle kniete, betete sie inbrünstig, obwohl sie längst aus der Kirche ausgetreten war. Für sie war es kein Widerspruch. Sie hatte nur der Institution, die ihren Glauben verwaltete, den Rücken gekehrt. Dann schrieb sie einen langen Bittbrief in das Buch, das auf dem Altar lag. Und plötzlich dachte sie an Oskars Schwierigkeiten mit der Esmeralda und fügte ihrem Text einen Nachsatz hinzu: âHeilige Muttergottes, bitte erhalte unseren Kindern ihren Vater. Beschütze ihn auf seinen Wegen und hilf ihm in seiner Not.â Endlich schrieb sie die Wörter âunseren Kindernâ wieder als Mutter und nicht als tief gekränkte Ehefrau und Geliebte.
Die beiden Frauen hatten für die Wanderung ins Tal zwei Schlitten mitgebracht. Sie zogen die Kinder hinter sich her und setzten sich, wenn der Weg steil genug war, selber drauf und lenkten gekonnt mit ihren FüÃen. Lilly sang glücklich âThe little drummer boy, parampampampam â¦â und spürte zum ersten Mal glasklar den Unterschied zwischen Mutter und Frau.
Nach dem Abendessen fuhr sie zu Ella, die in ihrer Küche saà und Kräuter bündelte.
âElla, Oskar bleibt für immer der Vater unserer Kinder, aber ich werde mich scheiden lassen. Ich weià jetzt, wie es ist, wenn der Tod ganz nah kommt, und gehe wieder meinen eigenen Weg. Ich will als Frau nicht mehr an ihn gebunden sein.â
Ella sagte ganz ruhig: âJa, und jetzt kann etwas Neues entstehen.â
Dann rief sie Oskar an. Er war zu Hause und
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