Lily und der Major
Tibbet die Augen verdrehte. »Lily, Lily – ein Mädchen wie dich gibt es nur
einmal auf der Welt!«
Die Bemerkung stimmte Lily von neuem
traurig, weil es irgendwo doch zwei Mädchen gab, von denen anzunehmen war, daß
sie ihr ähnlich waren. Aber sie verdängte Emma und Caroline für den Moment aus
ihren Gedanken und legte eine Hand auf Mrs. Tibbets ringgeschmückte Finger.
»Ich bin dir und dem Colonel so dankbar für
alles, was ihr für mich getan habt! Ihr wart so gütig zu mir.«
»Caleb ist wie ein Sohn für uns«,
erwiderte Mrs. Tibbet, »und du wirst nun unsere Tochter sein.«
»Aber sobald der Colonel seinen
Abschied nimmt, werdet ihr nach Fox Chapel zurückkehren«, wandte Lily ein.
Mrs. Tibbets Miene verriet, daß sie
erwartete, auch Lily bald in Pennsylvania zu sehen, aber natürlich war sie zu
höflich, um so etwas zu sagen. »Ich gehe jetzt hinunter und sehe, was der
Bräutigam macht. Soll ich dir etwas bringen, Lily? Eine Tasse Tee vielleicht?«
Lily hätte lieber etwas von dem
Brandy getrunken, dem die Männer unten zusprachen, aber die Angst, wie ihre
Mutter zu werden, hielt sie davon ab. »Nein, danke«, sagte sie, und Mrs. Tibbet
verließ den Raum.
Als sie allein war, trat Lily ans
Fenster. Es war noch hell, aber bald würden Sterne am Himmel stehen, und die
Vögel, die in den Eichen und Ahornbäumen zwitscherten, verstummen. Diese Nacht
war so ganz anders als alle anderen Nächte mit Caleb; zum ersten Mal würde sie
als seine rechtmäßig angetraute Gattin an seiner Seite schlafen.
Während sie am Fenster stand, fragte
Lily sich, warum sie sich bisher so beharrlich gegen eine Ehe gewehrt hatte. Es
schien das Natürlichste von der Welt zu sein, Caleb zu heiraten, um dem Kind,
das in ihr wuchs, einen Namen und ein Heim zu geben. Es lag eine gewisse süße
Resignation darin, ein Friede, der daraus herrührte, das Unvermeidliche
akzeptiert zu haben.
Die Tür hinter ihr ging auf, und
Lily sah Velvet eintreten, ein so strahlendes Lächeln auf den Lippen, als wäre
es ihr eigener Hochzeitstag.
»Du hast die richtige Entscheidung
getroffen, Lily«, sagte sie. Die beiden Frauen umarmten sich kurz, dann
richtete Velvet Lilys Schleier. »Gütiger Gott – wie schön du bist!«
Lily lächelte. »Alle Bräute sind
schön.«
Velvet nickte. »Wenn sie den
richtigen Mann heiraten. Hank wird Aufnahmen von euch machen – das ist unser
Hochzeitsgeschenk an euch.«
»Ich könnte mir kein besseres
vorstellen«, sagte Lily. Hank hatte bereits die Fotos entwickelt, die er bei
Lilys Einzug auf ihrem Land gemacht hatte, und auch jene von der Einweihungsfeier.
Sie gehörten zu Lilys liebstem Besitz.
Bald erklang die Orgel im Salon,
dann klopfte es an der Tür, und Lily stand dem Colonel gegenüber, der sehr
attraktiv aussah in seiner Galauniform, mit seinem weißen Haar und dem
gepflegten Schnurrbart.
»Sind Sie bereit, Miss Lily?« fragte
er, und als Lily nickte, nahm er ihren Arm und geleitete sie zur Treppe. Velvet
nahm ihren Platz als Ehrendame ein und führte die kleine Gruppe an, als sie zu
den Klängen des Hochzeitsmarsches würdevoll die Treppe hinunterschritt. Caleb
stand am Kamin neben dem Kaplan, und Lily fand, daß er eine beeindruckende
Erscheinung war in seinem langen blauen Rock mit den glitzernden Tressen und
Epauletten und den mit Goldstreifen besetzten Hosen. Lächelnd streckte er die
Hand aus, und Colonel Tibbet übergab ihm mit einem gütigen Lächeln und einem
verstohlenen Räuspern seine schöne Braut.
Die Zeremonie war viel zu schnell
vorbei für Lily. Sie versprach, Caleb zu lieben, zu achten und ihm zu
gehorchen, während Caleb das Versprechen ablegte, Lily zu lieben, sie zu achten
und sie zu pflegen. Es erschien Lily ein bißchen ungerecht, aber sie war zu
benommen, um die Ungleichheiten in diesem Augenblick richtig gegeneinander
abzuwägen. Sie gab einfach ihr Eheversprechen ab, und als Caleb sie küßte,
wurde ihr wie immer ganz schwach in den Knien, und das besserte ihre Stimmung
ein wenig.
Es gab Kuchen – obgleich es nur ein
Rosinenkuchen war, den Mrs. Tibbet für ihren Mann gebacken hatte – und Hank
machte Fotos.
Nach der Feier nahm Caleb Lilys Arm
und ging mit ihr hinaus ins Freie. Die Luft war kühl, aber am Himmel
glitzerten Myriaden von Sternen.
Lily schaute zu ihnen auf und
seufzte glücklich. »Hast du dir eine Kutsche oder einen Buggy geliehen?« fragte
sie ihren Gatten.
»Wir fahren heute nacht nicht mehr
nach Hause, Lily«, antwortete Caleb, während er das
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