Lily und der Major
etwas von Anfang an
vermutet hatte, verschlug es ihr doch die Sprache. Sie war so fassungslos, daß
sie Sandra nur stumm anstarren konnte.
Vor einem zweistöckigen Haus mit
Fensterläden und gepflegtem Rosengarten blieb Mrs. Tibbet stehen und öffnete
das Tor. »Diplomatisch bist du wirklich nicht, Sandra«, bemerkte sie gereizt.
Lily fragte sich, ob es zu spät sein
mochte, wieder in die Kutsche zu steigen und nach Hause zurückzukehren. In
welche Situation hatte sie sich bloß gebracht?
Sandra zog sie sanft zum Gartentor.
»Keine Angst, Lily – ich bin keine Konkurrenz für Sie – so gern ich es auch
wäre. Sie müssen wissen, daß ich bei Caleb in Ungnade gefallen bin.«
»Sandra!« protestierte Mrs. Tibbet
scharf.
Sandra
lächelte nur und schwieg.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich
nach Tylerville zurückkehre«, sagte Lily unbehaglich.
»Unsinn«, war Mrs. Tibbets einziger
Kommentar.
»Aber ...«
Ihre Gastgeberin öffnete die Tür,
und Lily folgte ihr hinein.
»Sie glauben, es störte Caleb, wenn
Sie und ich zusammen sind, nicht wahr?« fragte Sandra, als sie den gemütlichen
Salon betraten.
»Warum sollte es?« entgegnete Lily schroff.
Mrs. Tibbet hob die Hand. »Gib mir
die Tasche, Sandra«, befahl sie. »Ich zeige Lily jetzt ihr Zimmer, und du
kannst Tee aufbrühen. Dabei solltest du dir überlegen, ob es weise ist, dich in
Dinge einzumischen, die dich nichts angehen.«
Sandra seufzte nur und zog sich in
die Küche zurück. »Caleb hätte es mir sagen können«, meinte Lily leise,
als Mrs. Tibbet sie in ihr Zimmer begleitete.
Die Frau des Colonels stellte Lilys Reisetasche auf eine kleine Truhe neben einem hübschen Bett mit
Bronzegestell. »Das stimmt«, gab sie zu. »Aber wie ich Caleb kenne, ist es ihm
nicht einmal in den Sinn gekommen. Er denkt nicht an Sandra, wie Männer
üblicherweise an ihre ehemalige Gattin denken.«
Lily setzte sich verwundert auf das
Bett. Scheidungen waren noch sehr selten in diesem Teil der Welt. Und wie
konnte Caleb Sandra gegenüber so gleichgültig sein, daß er sie nicht einmal
erwähnte? »Was ist zwischen ihnen vorgefallen?« wollte sie wissen.
»Ich fürchte, das werden Sie Caleb
und Sandra fragen müssen. Übrigens erzählen beide sehr unterschiedliche
Versionen.«
»So? Und welche soll ich glauben?«
Mrs. Tibbet blieb an der Tür stehen
und lächelte Lily an. »Natürlich beide, meine Liebe. Sie stimmen beide – denn
bei diesen Dingen kommt es immer auf die jeweilige Perspektive an.«
Lily war nicht klüger als zuvor,
doch sie sah ein, daß weitere Fragen sinnlos waren. Als Mrs. Tibbet fort war,
nahm sie ihr kostbares Ballkleid heraus und hängte es in den großen Eichenschrank.
Dann setzte sie sich in den
Schaukelstuhl am Fenster, legte das Gesicht in beide Hände und flüsterte
verzweifelt: »Mein Gott, Caroline, was soll ich tun?«
Natürlich war ihre Schwester nicht
da, um ihr zu antworten, und wieder empfand Lily eine fast schmerzhafte
Sehnsucht nach ihr. Caroline hatte immer gewußt, was zu tun war.
Es klopfte leise, und Sandra kam
herein. Sie bot einen entzückenden Anblick in ihrem weißen Kleid aus
spitzenbesetztem Baumwollstoff, mit dem herrlichen dunklen Haar und den temperamentvollen
Augen. Bestimmt hatte sie Calebs Herz gebrochen, und er sprach nicht über sie,
weil er es nicht konnte.
»Du liebe Güte«, rief Sandra aus.
»Worüber denken Sie bloß nach? Sie sehen aus wie ein verirrtes Kind!«
Lily bemühte sich um Würde und lächelte
erzwungen. »Ich habe über Sie und Caleb nachgedacht«, antwortete sie
aufrichtig.
Sandra setzte sich ans Fußende von
Lilys Bett. »Sie sind in ihn verliebt!« flüsterte sie entzückt.
Lily dachte an ihre Parzelle, an die
Obstbäume und das Getreide, das sie dort anbauen wollte. Und sie rief sich ins
Gedächtnis, daß Caleb sie nur als Mätresse wollte und nicht vorhatte,
sie zu heiraten. Und, nicht zuletzt, die Tatsache, daß er Soldat war. »Nein!«
widersprach sie heftig.
Sandra faltete die Hände. Ihre Augen
funkelten vor unterdrückter Heiterkeit. »Ich glaube Ihnen nicht.«
»Das ist mir egal«, fuhr Lily gereizt
auf.
Sandra lachte. »Sie brauchen nicht
so empfindlich zu sein. Caleb hat mich nie geliebt, Lily, ich bin keine
Gefahr für Sie.«
»Warum haben Sie ihn dann geheiratet?«
Sandra zuckte mit den Schultern.
»Meine Tante und mein Onkel sind Calebs beste Freunde. Sie brachten uns
zusammen.«
Irgendwie fand Lily den Mut, zu
fragen: »Haben Sie ihn geliebt?«
Sandra dachte
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