Lily und der Major
ganz
atemlos.
Caleb schmunzelte und küßte sie
flüchtig auf die Stirn. »Wir sehen uns beim Dinner, kleine Lilie«, sagte er,
dann setzte er seinen Hut auf und ging.
Es dauerte sehr lange, bis Lily sich
soweit beruhigt hatte, daß sie in den Salon zurückkehren konnte. Doch Mrs.
Tibbet war nicht mehr da. Sandra knabberte an einem Keks.
»Ich kann sehen, daß Caleb Sie schon
zu seiner Denkweise bekehrt hat«, bemerkte sie etwas spitz.
Lily errötete. »Es wäre vielleicht
besser, wenn wir das Thema Caleb vermeiden würden«, entgegnete sie mit
erzwungener Gelassenheit.
Sandra stand auf, ging zum Schrank
und kam mit einem Nähkörbchen zurück. »Das mag sein«, stimmte sie zu. »Erzählen
Sie mir etwas von sich, Lily. Wo sind Sie geboren?«
»In Chicago.«
»Ich bin aus Fox Chapel,
Pennsylvania, wie alle anderen in diesem Haus«, erzählte Sandra, während sie
stirnrunzelnd eine Nadel einfädelte.
Fox Chapel. Lily erinnerte sich, daß
auch Caleb aus dieser Stadt kam. »Aha.«
Es lag keinerlei Bosheit in Sandras
Stimme, als sie fortfuhr: »Ich hörte, daß Sie beabsichtigen, eine Farm zu
gründen. Sind das nicht etwas zu ehrgeizige Pläne für eine Frau?«
Lily seufzte verstohlen. Sandra
konnte nur durch Caleb von ihren Plänen erfahren haben. Warum führte jedes
Thema immer wieder zum Major zurück? »Ich bin sicher, daß ich es schaffen
werde.«
»Das denken wir oft – bei Dingen und
bei Menschen. Aber dann müssen wir feststellen, daß es uns leider doch nicht
gelingt.«
Lily warf einen sehnsüchtigen Blick
zur Tür. »Ich glaube, ich mache einen Spaziergang.«
Sandra lächelte sie an. »Ich könnte
Sie begleiten«, schlug sie vor. »Meine Kopfschmerzen sind fort.«
Lily verneinte hastig. »Ich werde
nicht lange bleiben«, versprach sie und eilte hinaus, bevor Sandra sich
anschließen konnte.
Draußen schlug sie die
entgegengesetzte Richtung zu jener ein, aus der sie vorher gekommen waren. Sie
kam an einem Dutzend ähnlicher Häuser wie Mrs. Tibbets vorbei, dann kam offenes
Gelände – und dahinter die bedrückendste Ansammlung von Hütten, die Lily je
gesehen hatte.
Von Neugier getrieben, näherte sie
sich der armseligen kleinen Siedlung. Schmutzstarrende nackte Kinder spielten
vor den heruntergekommenen Hütten, und schlampige Frauen schrien ihnen heisere
Befehle zu.
Lily schaute über die Schulter
zurück, um sich zu vergewissern, daß sie sich die eleganten Häuser mit den
gepflegten Gärten nicht nur eingebildet hatte. Dann trat sie näher an die
Hütten heran.
»Was wollen Sie, Lady?« fragte ein
kleines Mädchen, dem auf ekelerregende Weise die Nase lief.
Lily schaute betroffen auf das Kind
herab, sie war unfähig, etwas zu erwidern.
Das Kind versuchte es noch einmal.
»Suchen Sie Ihren Mann?«
Als Lily die Bedeutung ihrer Worte
aufging, trat sie ganz unbewußt zurück. »Nein.«
»Manchmal kommen Damen in die Suds
Row, um nach ihren Männern zu suchen. Und dann gibt es schrecklichen Streit.«
Lily lächelte schwach. »Das kann ich
mir vorstellen. Lebst du hier?«
Das kleine Mädchen streckte eine
schmutzige Hand aus. »Ich bin Elsie.«
»Und ich heiße Lily«, erwiderte Lily
und drückte zögernd die kleine Hand. »Kommen die Soldaten oft hierher, Elsie?«
Elsie nickte. »Wenn sie eine Frau
wollen oder ein Hemd zum Waschen bringen«, antwortete sie.
Lily wurde übel. »Und der Colonel
gestattet das?«
Das Kind zuckte mit den Schultern.
»Wir sehen ihn hier nicht. Er hat eine Frau. Außerdem ist er sicher schon zu
alt zum Kuscheln. «
Ein entsetzlicher Zorn erfaßte Lily.
Sie wußte nur zu gut, was Armut war, und die Tatsache, daß sie inmitten dieses
Forts zu finden war, wo es den Offizieren an nichts zu fehlen schien, machte
alles nur noch schlimmer.
Mit einer Hand raffte Lily ihre
Röcke und stürmte zurück. Wenn auch alle anderen vielleicht Angst hatten,
Colonel Tibbet mit den Nöten dieser Menschen zu konfrontieren, Lily fürchtete
sich nicht vor ihm.
5
Da Lily nicht wußte, wo sie den Colonel suchen sollte,
beschloß sie, in dem kleinen Laden nachzufragen, der zum Fort gehörte.
Hinter der Theke stand ein
untersetzter Mann in der Uniform eines Sergeanten. Er war kaum größer als Lily
und hatte eine Glatze und freundliche blaue Augen. »Hallo, Miss. Was kann ich
für Sie tun?«
Lily richtete sich zu ihrer vollen
Höhe von einem Meter sechzig auf. »Ich suche Colonel Tibbet. Könnten Sie mir
zeigen, wo ich ihn finden kann?«
Der Sergeant wirkte leicht
entgeistert.
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