Lily und der Major
McAllister.
Die gute Frau erschien auf der
Veranda, als sie das Haus erreichten, eine Laterne in der einen Hand und Lilys
Reisetasche in der anderen.
»So!« zischte sie beim Anblick ihrer
Mieterin. »Da bist du ja! Und ich hielt dich für ein unschuldiges, liebes
Mädchen!«
»Hören Sie ...« begann Rupert lahm.
»Man sollte meinen, Sie wären der
letzte, der sie verteidigt!« fiel Mrs. McAllister ihm mißbilligend ins Wort.
»Ein verlassener Ehemann! Und die armen, armen Kinder, die nach ihrer Mama
weinen ...«
»Ich habe keinen Mann!« rief Lily
und nahm Mrs. McAllister die Tasche ab.
»Es handelt sich um ein Mißverständnis!«
wandte Rupert ein.
»Das kann man wohl sagen!«
entgegnete Mrs. McAllister spitz. »Major Halliday wird sich wundern, wenn er
erfährt, daß er einer Schlampe den Hof gemacht hat!«
Lily stampfte verärgert mit dem Fuß
auf. »Siehst du, Rupert, was du angestellt hast?« rief sie, den Tränen nahe.
»Du hast alles zerstört!«
»Madam«, begann Rupert mühsam
beherrscht, »diese junge Dame ist nicht meine Frau, sie ist meine Schwester.
Angesichts dessen brauche ich wohl nicht zu sagen, daß keine Kinder existieren.«
Mrs. McAllister war entgeistert.
»Dann ist Lily also gar nicht verheiratet?«
Rupert schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe«, sagte die Hauswirtin
und öffnete die Tür. Lily trat hocherhobenen Kopfes ein. »Ich schätze, dann
habe ich noch ein Zimmer.« Mrs. McAllister seufzte. »Ja – jedenfalls im Augenblick. Aber ich möchte
wissen, wie die Geschichte angefangen hat.«
Lily warf Rupert einen vernichtenden
Blick zu. »Mein Bruder wird es Ihnen gern erklären«, sagte sie, bevor sie sich
zur Treppe wandte und zu ihrem Zimmer ging.
Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, saß
Rupert am Küchentisch und trank Kaffee.
»Was machst du hier?« fragte Lily
wenig freundlich.
»Ich bin gekommen, um mich zu
verabschieden.«
Das bekümmerte sie nun doch. »Du
meinst, du willst abreisen? Einfach so?«
Rupert nickte. »Ich habe eine Schule
zu leiten, hast du das vergessen?« Er drohte ihr mit dem Finger. »Ich hoffe, du
denkst an dein Versprechen – wenn du Schwierigkeiten hast, kommst du sofort
nach Hause.«
»Darauf kannst du dich verlassen«,
versicherte sie ihm, erleichtert, daß er keine Einwände mehr erhob. »Und ich
werde dir schreiben, so oft ich kann.«
Rupert stand auf und drückte ihre
Hand. »Das wäre schön.«
»Wie hast du mich überhaupt gefunden?« Die Frage hatte
Lily fast die ganze Nacht beschäftigt.
»Der Postmeister sagte mir, du wärst
hier.«
Lily nickte. Natürlich. Einige der
Briefe, die sie an die Marshals verschiedener Städte im Washingtoner
Territorium geschrieben hatte, mußten über Spokane gegangen sein. »Ich danke
dir für dein Verständnis, Rupert«, sagte sie leise.
Ihr Bruder lächelte. »Ich möchte
nur, daß du glücklich bist, Lily. Glücklich und in Sicherheit.«
Sie dachte an die einsamen
Winternächte, die sie auf ihrer Farm erwarteten, an die Wölfe und die eisigen
Schneestürme vor der Tür, und sie erschauerte.
»Was hast du?« fragte er besorgt.
Lily schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Dann wurde es Zeit für Rupert, die
Postkutsche zu besteigen, und Lily machte sich auf den Weg zu ihrer Arbeit im
Hotel.
Als sie abends nach Hause kam, lag
ein Paket auf ihrem Bett. Tibbet. Fort Deveraux, stand auf dem Absender.
Neugierig löste Lily die Schnur und
das braune Packpapier und öffnete den Karton. Er enthielt ein bezauberndes
Kleid aus lavendelfarbenem Batist. Es hatte weite, spitzenbesetzte Ärmel und
einen runden Ausschnitt, der, obwohl er sich noch in den Grenzen des Anstands
hielt, für Lilys Geschmack geradezu schockierend tief war.
Aufgeregt streifte sie ihr
schlichtes Kattunkleid ab und probierte das Ballkleid an. Es war um die Taille
eine Spurt zu weit und auch einige Zentimeter zu lang, aber ansonsten paßte es
perfekt, und das blasse Lila schmeichelte Lily sehr.
Entzückt drehte sie sich vor dem
Spiegel und stellte sich vor, wie es sein würde, in diesem Kleid und in Major
Hallidays starken Armen über die Tanzfläche zu gleiten ...
Doch dann verhielt sie abrupt im
Schritt. Sie durfte nicht vergessen, daß Calebs Absichten keineswegs ehrenhaft
waren. Für ihn war sie nichts als ein Spielzeug, das er auf egoistische und
gedankenlose Weise zu benützen dachte, genau wie Isadora es mit ihr getan
hatte.
Seufzend setzte Lily sich aufs Bett.
Trotz allem gelang es ihr nicht, Caleb aus
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