Lily und der Major
»Wollen Sie sich anwerben lassen, Madam?« neckte er Lily.
Sie lächelte schwach. »Ich glaube
nicht, daß ich einen guten Soldaten abgeben würde. Aber wenn Sie mir jetzt
bitte sagen könnten, wo
...«
»Nebenan«,
antwortete der Sergeant und deutete auf ein Blockhaus
mit Flaggen vor der Tür.
»Aber vorausgesetzt, es handelt sich
nicht mindestens um einen Angriff der Komantschen, würde ich ihn an Ihrer
Stelle jetzt nicht
stören.«
Lily
runzelte die Stirn. »Ich dachte, es gäbe hier keine Komantschen.«
»Genau«, stimmte der Sergeant
grinsend zu. »Colonel Tibbet ist ein feiner Mensch, Miss. Aber wenn er mit
Papierkram beschäftigt ist, wird er angriffslustig wie ein Grizzly.«
Aber auch das brachte Lily nicht von
ihrem Vorhaben ab. Sie dankte dem Sergeanten freundlich und machte sich auf den Weg zum
Nebenhaus.
Ein gutaussehender junger Corporal
saß an einem Schreibtisch und sprang lächelnd auf, als er Lily sah. »Corporal
Pierce – zu Ihren
Diensten«, sagte er.
»Ich möchte
Colonel Tibbet sprechen«, erklärte Lily fest.
»Ich
fürchte, er ist beschäftigt ...«
»Es wird
nicht lange dauern.«
Corporal Pierce' blaue Augen
musterten Lilys gelbes Kleid. »Ich nehme an, Sie kommen nicht zu dem Ball heute
abend«, sagte er und strich sich über sein glattes braunes Haar.
Bevor Lily etwas erwidern konnte,
öffnete sich die Tür zu dem angrenzenden Büro, und Colonel Tibbet erschien auf
der Schwelle. »Corporal, holen Sie mir Kaffee aus der Kantine.«
»Jawohl, Sir.« Der junge Soldat
schaute Lily an und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Hier ist
Ihre Chance. Dann eilte er hinaus, um den Auftrag seines Colonels zu erfüllen.
Lily räusperte sich, als Colonel
Tibbet sich wieder in sein Büro zurückziehen wollte. »Verzeihen Sie, Sir, aber
ich hätte etwas mit
Ihnen zu besprechen.«
Colonel Tibbet war überrascht;
offensichtlich hatte er Lily vorher nicht bemerkt. Und an die kurze Begegnung
im Speisesaal des Hotels schien er sich auch
nicht zu erinnern, denn er fragte verwundert: »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Lily Chalmers,
Colonel, und ich bin hier, um Ihnen Bericht über einen beschämenden Zustand zu
erstatten.«
»Lily Chalmers ...« Der Colonel überlegte.
»Ach ja – Sie sind die kleine Kellnerin aus Tylerville, die Caleb aufgefallen
ist.«
»Ja.« Lily fühlte sich durch die
Worte des Colonels gedemütigt, aber sie wußte auch nicht, wie sie ihn
berichtigen sollte. Sie brauchte ohnehin schon ihren ganzen Mut, um ihm über
die Zustände in jener ärmlichen Siedlung zu berichten.
»Dann suchen Sie wohl den Major,
was?« fragte Colonel Tibbet und lachte jovial.
Lily schüttelte den Kopf. »Ich bin
wegen Suds Row hier«, erwiderte sie tapfer.
Der Colonel trat aus seinem Büro und
schloß die Tür hinter sich. »Suds Row? Was in aller Welt haben Sie mit einem
solchen Ort zu tun, junge Dame?«
Lily trat einen Schritt vor. »Ich
kam auf einem Spaziergang zufällig daran vorbei. Wie können Sie zulassen, daß
so etwas Schändliches existiert?«
Der Colonel wirkte überrascht, aber
nicht verärgert. Sein Verhalten zeugte eher von Nachsicht als von Ungeduld.
»Jetzt hören Sie mal, Daisy ...«
»Lily«, unterbrach Lily ihn fest.
»Na schön, Lily. Suds Row ist kein
Ort für anständige junge Damen. Wenn Sie ihm während Ihres Aufenthalts hier
bitte fernbleiben würden ...«
Lily war so betroffen, daß sie ihn
unterbrach. »Sie meinen, Sie ignorieren seine Existenz ganz einfach?
Colonel Tibbet, wir sprechen über einen Ort, an dem sich Frauen an Männer verkaufen!«
Er lachte und strich sich über
seinen Schnurrbart. »Richtig. Diesmal hat Caleb es geschafft, das muß ich
sagen.«
Lily versteifte sich. »Wie bitte?«
Der Colonel räusperte sich umständlich. »Sie werden mich jetzt bitte
entschuldigen. Ich habe Arbeit zu erledigen. Der Kongreß erwartet von uns, mit nichts anderem zu arbeiten als
seinen guten Wünschen, und ich muß mir über das Budget den Kopf zerbrechen.«
Damit wandte er sich ab, ging in sein Büro zurück und schloß die Tür hinter sich.
Doch die Gerüche und Szenen in Suds
Row gingen Lily nicht aus dem Kopf, und sie wollte gerade in das Büro des
Colonels stürmen, als Corporal Pierce zurückkam. Er sah Lilys gerötetes Gesicht und
lächelte.
»Ich sehe,
daß Sie mit dem Colonel gesprochen haben.«
»Viel hat es leider nicht genützt«,
gab sie zu. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Lassen Sie mich den Kaffee
hereinbringen«, sagte sie und
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