Lily und der Major
als würde man eine Krankheit ignorieren – bis sie immer
schlimmer wird.«
Sandra zuckte die Schultern. »Diese
widerlichen Frauen verdienen gar nichts anderes.«
»So?« entgegnete Lily scharf. »Und
was ist mit den Soldaten, die zu ihnen gehen? Was verdienen sie?«
Sandra lächelte herablassend.
»Läuse. Und die werden sie auch bekommen. Unter anderem.«
Lily schnappte vor Empörung nach
Luft. »Vorausgesetzt, es sind nur die unverheirateten Männer, die ...«
»Wie naiv Sie sind«, warf Sandra
ein.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen ...?«
»Eine Menge Frauen ziehen es vor,
von ihren Männern im Bett nicht belästigt zu werden, Lily. Deshalb stellen sie
sich dumm, wenn ihre Männer ihnen sagen, sie sollten sich ihre zarten Hände
nicht mit Seifenschaum verderben.«
Sandra war nicht viel älter als
Lily, aber sie war verheiratet gewesen und mußte deshalb über mehr
Lebenserfahrung verfügen.
»Aber doch
nicht Caleb?« flüsterte Lily entsetzt.
Sandra lachte. »Du liebe Güte, nein.
Ihn interessieren diese zahnlosen Waschweiber nicht. Er hielt sich eine
Mätresse in Tylerville – ich glaube, er hat sie immer noch.«
Lily riß so weit die Augen auf, daß
sie schmerzten. Deshalb waren Caleb und Sandra also geschieden! Er war
Sandra untreu gewesen. Und zu denken, daß sie, Lily, sich von einem solchen
Schuft hatte küssen lassen! Mit einer gemurmelten Entschuldigung sprang Lily
auf und eilte in ihr Zimmer im ersten Stock.
Zehn Minuten später kam sie mit
ihrer Reisetasche in die Halle. Mrs. Tibbet hielt sie mit besorgter Miene auf.
»Was haben Sie vor, Lily? Sie wollen doch nicht etwa abreisen?«
»Doch«, antwortete Lily.
Endlich legte Sandra ihre Handarbeit
beiseite. »Warum?« wandte sie ein. »Und wie wollen Sie ohne Kutsche überhaupt
nach Tylerville zurückkommen?«
Lily spürte, wie ihr das Blut in die
Wangen strömte. »Ich laufe, wenn es sein muß«, antwortete sie.
»Was hast du ihr gesagt?« wollte
Mrs. Tibbet von Sandra wissen.
»Nur daß Caleb eine Mätresse in
Tylerville hat. Es stimmt, und ich möchte wetten, daß er sie immer noch
besucht!«
»Sandra, du bist die Tochter meiner
Schwester, und deshalb habe ich dich gern, aber ich dulde keine weiteren
Einmischungen mehr von dir. Hast du mich verstanden?«
Lily war entsetzt, einen
Familienstreit ausgelöst zu haben. »Auf Wiedersehen, Mrs. Tibbet«, sagte sie
rasch. »Und vielen Dank für alles.« Calebs geschiedener Frau nickte sie nur
flüchtig zu.
Mrs. Tibbet ergriff Lilys Arm und
sagte flehend: »Bitte, gehen Sie nicht, Miss Chalmers. Sie verstehen nicht ...«
»Doch, ich
fürchte, ich verstehe nur zu gut.«
Mrs. Tibbets Blick ging zu ihrer
Nichte. »Dafür legt Caleb dich übers Knie, Sandra, wenn er es erfährt, und ich
werde ihn nicht davon abhalten. Darauf kannst du dich verlassen.«
Sandra biß sich auf die Lippen.
»Caleb hatte wirklich eine Mätresse«, beharrte sie trotzig.
»Dann sag Miss Chalmers auch,
warum«, forderte Mrs. Tibbet.
Eine zarte Röte stieg Sandra in die
Wangen. »Weil er und ich ... Wir hatten nie normalen ehelichen Verkehr.«
Lily war so
verblüfft, daß es ihr die Sprache verschlug. »Caleb ist in der ganzen Zeit
unserer Ehe nicht ein einziges Mal in mein Bett gekommen«, gestand Sandra
leise.
So etwas hatte Lily noch nie gehört.
»Er hat diese Frau in Tylerville seiner eigenen Gattin vorgezogen?«
Sandra senkte den Blick und
schüttelte den Kopf. »Nein. Caleb wurde meinem Onkel und meiner Tante zuliebe
mein Mann. Er hatte nie die Absicht, mich richtig zu seiner Frau zu machen, und
hat die Ehe annullieren lassen, sobald es möglich war.«
Lily warf Mrs. Tibbet einen
verständnislosen Blick zu, und die ältere Dame nickte zur Bestätigung. »Sandra
erwartete ein Kind«, sagte sie ruhig. »Der Vater dieses Kindes hatte sie im
Stich gelassen, und Caleb trat an seine Stelle. Dann hatte Sandra eine
Fehlgeburt, und Caleb wollte seine Freiheit.«
Lily ließ
ihre Tasche sinken und setzte sich auf einen Stuhl. Noch nie hatte ihr jemand
so leid getan wie Sandra in diesem Augenblick.
Sandra warf ihre Handarbeit beiseite
und stürzte die Treppe hinauf.
»Wird sie
sich beruhigen?« fragte Lily leise.
Mrs. Tibbet lächelte sie an. »O ja«,
erwiderte sie sanft. »Machen Sie sich keine Sorgen. Habe ich richtig gehört,
daß Sie heute in Suds Row waren?«
Lily
nickte. »Ein schrecklicher Ort.«
»Ich weiß«, stimmte Mrs. Tibbet zu.
»Ich versuche schon sehr lange, John dazu zu bewegen, etwas zu
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