Lily und der Major
kam, daß sie ihn nicht als unangenehm empfunden hatte.
Lily war entsetzt. Ihre Reaktion auf
Wilburs Kuß bestätigte nur wieder ihre Befürchtung, daß sie wie Ihre Mutter
war. Vor Beschämung kamen ihr die Tränen, und sie bückte sich rasch, um ein
wenig Holz zu sammeln. »Tun Sie das nicht noch einmal, Wilbur«, flüsterte sie.
»Hören Sie? Nie wieder!«
»Es tut mir leid«, sagte er leise.
Lily richtete sich auf und ging zu
ihrem kleinen Haus zurück, das inzwischen vollständig zusammengebaut war. Unten
am Bach stand der Wagen des Fotografen. Die Pferde waren abgeschirrt und
tranken.
Velvet und Hank waren zu Besuch
gekommen! Lily freute sich so sehr, daß sie die Episode mit Wilbur aus ihrem
Bewußtsein strich, sich rasch die Tränen abwischte und ihren Schritt
beschleunigte. Nachdem sie das Holz abgeladen hatte, umarmte sie Velvet, die
Hank beim Aufstellen seiner Kamera beobachtete.
»Hank dachte, du hättest vielleicht
gern ein paar Fotos«, sagte Velvet lächelnd. »Zur Feier des Anlasses.«
Lily war begeistert über die Idee
und posierte stolz neben ihrer Eingangstür. Ein grellweißer Blitz explodierte,
als Hank auf den Auslöser drückte, und Lily fuhr erschrocken zusammen.
»Eines Tages wirst du die Bilder
deinen Enkelkindern zeigen«, bemerkte Hank, als er unter dem schwarzen Tuch
hervorkam.
Ich werde vermutlich nie welche
haben, dachte Lily traurig.
Wilbur und seine Freunde gingen zum
Wald, um den Rest des Brennholzes zu holen, und Lily und Velvet holten Wasser
aus dem Bach.
»Wir werden Nachbarn sein«, sagte
Velvet strahlend. »Hank möchte das Stück Land dort drüben hinter den Bäumen
haben – er will jetzt gleich nach Tylerville zurückfahren, um es sich zuteilen
zu lassen.«
Lily stellte den Eimer ab und
umarmte ihre Freundin. »Das ist ja wunderbar, Velvet! Wenn ihr in der Nähe
seid, werde ich mich nicht mehr so einsam fühlen.«
Velvet erwiderte ihre Umarmung,
schien jedoch sehr viel weniger begeistert als Lily. »Ich verstehe nicht, warum
du unbedingt allein hier draußen leben willst – vor allem, wo du mit dem Major
zusammensein könntest!«
Lily wollte weder über Caleb reden
noch an ihn denken, genausowenig wie an Wilburs Kuß und ihre beschämende
Reaktion darauf. »Eine Frau braucht keinen Mann zum Leben, Velvet. Ich bin der
lebende Beweis dafür.«
»Tatsächlich?« entgegnete Velvet.
»Weshalb springen dann all diese blauuniformierten Affen hier herum und nageln,
klopfen und sägen? Wo wärst du ohne sie, Lily?«
Lily hob ihren Eimer auf und wandte
sich zum Haus. »Sie würden einem Mann genauso bereitwillig helfen wie mir«,
sagte sie.
»Hal« schnaubte Velvet. »Sie wissen,
daß du ganz allein hier draußen sein wirst, Lily, und es würde mich nicht
wundern, wenn einige von ihnen eine Gegenleistung für ihre Hilfe erwarteten!«
Lily hob selbstbewußt den Kopf.
»jeder unerwünschte Besucher wird schnell merken, daß er in den Lauf einer
Flinte schaut.«
Sie hatten die Hütte erreicht, und
Lily trat als erste über die Schwelle. Überall im Boden waren Löcher, in den
Fenstern fehlte das Glas. »Kannst du überhaupt schießen?« wollte Velvet wissen,
während sie sich mit einem leisen Erschauern umsah. Vermutlich weckte die Hütte
unangenehme Erinnerungen in ihr.
»Ich habe früher mit meinem Bruder
Schneehühner gejagt«, informierte Lily sie stolz. »Ein Gewehr habe ich auch
schon. Es steht dort in der Ecke.«
Velvet stellte den Eimer neben den
Herd und betrachtete neugierig Lilys Waffe. Sie stieß einen leisen Pfiff aus.
»Woher hast du es?«
»Ich ... ich habe es mir von Caleb
ausgeliehen.«
»Ohne sein Wissen vermutlich«, fügte
Velvet hinzu. »Du solltest lieber gut zielen, wenn du es benutzt, Lily, weil
du nämlich immer nur einen Schuß abfeuern kannst und es dann nachladen mußt.«
Lily nickte nur und wechselte das
Thema. »Wenn ihr nach Tylerville zurückfahrt, könntet ihr mir einen großen
Gefallen tun.«
»Und der wäre?« Zum ersten Mal
bemerkte Lily den Glanz in Velvets Augen und die bezaubernde Röte auf ihren
Wangen.
»Ich habe einige Sachen in Spokane
bestellt. Vielleicht sind sie inzwischen angekommen. Du könntest dem Mann im
Frachtbüro sagen, daß er sie herschicken soll.«
Velvet nickte. »Gern.«
In diesem Augenblick rief Hank sie
von draußen.
»Wir müssen fahren«, sagte Velvet
strahlend, und Lily hatte das seltsame Gefühl, daß Velvet sich auf einmal gern
von einem Mann herumkommandieren ließ.
Angewidert schüttelte Lily
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