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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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dir?«
    »Owen, du musst nicht alles wissen –«
    »Ich will es verstehen.«
    Tu seufzte und strich sich über die Glatze.
    »Sagen wir, ich helfe Yoyo, ihren Vater zu begreifen. Das ist es jedenfalls, was sie sich von mir erhofft.« Er hob einen Finger. »Und frag jetzt bloß nicht, was es da zu begreifen gibt. Das geht dich verdammt noch mal nichts an.«
    »Du redest genauso in Rätseln wie Chen«, brummte Jericho übellaunig.
    »Im Gegenteil. Ich erweise dir ein Übermaß an Vertrauen.«
    »Dann vertrau mir weiterhin. Wenn ich Yoyo finden soll, muss ich die Namen der anderen Wächter kennen. Ich muss sie aufsuchen, ich muss jemanden befragen.«
    »Geh einfach davon aus, dass die anderen ebenfalls untergetaucht sind.«
    »Oder einkassiert wurden.«
    »Kaum. Ich hatte vor Jahren Gelegenheit, einen tiefen Blick ins Räderwerk staatlicher Fürsorge zu tun, wo sie dir in den Kopf gucken und dich befallen finden von allerlei Wahnsinn. Ich kenne die Typen. Hätten sie die Wächter dingfest gemacht, würden sie längst lauthals damit prahlen. Es ist eine Sache, Menschen verschwinden zu lassen, aber wenn dir jemand auf der Nase rumtanzt und dich öffentlich zum Narren macht, steckst du seinen Schädel auf eine Lanze, sobald du ihn hast. Yoyo hat die Partei zu sehr geärgert. Das lassen die sich nicht bieten.«
    »Wie ist Yoyo überhaupt da reingeraten?«
    »Wie junge Leute in so was geraten. Sie hat sich mit zi you infiziert, mit Freiheit.« Tu stocherte zwischen seinen Hemdknöpfen herum und kratzte sich den Bauch. »Du lebst schon eine Reihe von Jahren hier, Owen, ich glaube, du verstehst mein Volk inzwischen ziemlich gut. Oder sagen wir, du verstehst, was du siehst. Aber ein paar Dinge bleiben dir verschlossen. Alles, was heute im Reich der Mitte vonstattengeht, ist die logische Konsequenz aus Entwicklungen und Brüchen in unserer Geschichte. – Ich weiß, das klingt wie aus dem Reiseführer. Europäer denken ständig, dieses ganze Yin-und-Yang-Getue, dieses Pochen auf Traditionen sei folkloristischer Ramsch, der darüber hinwegtäuschen soll, dass wir eine Bande raffgieriger Kopisten sind, die der Welt ihren Stempel aufdrücken wollen, unentwegt Menschenrechte verletzen und seit Mao keine Ideale mehr haben. – Aber Europa war zweitausend Jahre lang ein Topf, in den ständig Neues geworfen wurde. Ein Flickwerk aus Identitätsbefindlichkeiten im Versuch, ein Teppich zu werden. Ihr habt euch gegenseitig überrannt, euch die Sitten und Gebräuche eurer Nachbarn zu eigen gemacht, noch während ihr gegen sie kämpftet. Riesenreiche sind im Zeitraffer entstanden und vergangen. Mal waren es die Römer, mal die Franzosen, mal die Deutschen und Briten, die das Sagen hatten. Ihr sprecht vom Vereinigten Europa und redet doch in mehr Sprachen, als ihr zu verstehen in der Lage seid, und als sei das nicht genug, importiert ihr Asien, Amerika und den Balkan gleich mit. Ihr seid herzlich bemüht, der Welt euer Vive la France, God save the Queen und Deutschland, einig Vaterland als gesunden Patriotismus zu verkaufen, zugleich schlachtet ihr eure Eigenheiten unter dem Gesichtspunkt ihrer kommerziellen Verwertbarkeit aus und nicht vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Geschichte. Ihr könnt nicht verstehen, dass ein Volk, das sich die meiste Zeit genug war, weil es fand, die Mitte bedürfe nicht der Kenntnis ihrer Ränder, Neues nur schwer anzunehmen vermag, zumal wenn es von außen herangetragen wird.«
    »Das versteht ihr meisterhaft zu überspielen«, schnaubte Jericho. »Ihr fahrt deutsche, französische und koreanische Autos, tragt italienische Schuhe, schaut amerikanische Filme, ich kenne überhaupt kein Volk, das sich in den vergangenen Jahren mehr nach außen gestülpt hat als ihr.«
    »Nach außen gestülpt?« Tu lachte trocken. »Schön gesagt, Owen. Und was kommt zum Vorschein, wenn du etwas nach außen stülpst? Sein Inneres. Aber was siehst du? Was konkret stülpen wir nach außen? Doch nur, was ihr wiedererkennt. Ihr wolltet, dass wir uns öffnen? Das haben wir getan, in den Achtzigern unter Deng Xiaoping. Ihr wolltet mit uns Geschäfte machen? Ihr macht sie. Alles, was chinesische Kaiser in Jahrtausenden nicht von euch haben wollten, haben wir euch binnen weniger Jahre abgekauft, und ihr habt es uns bereitwillig verkauft. Nun verkaufen wir es euch zurück, und ihr kauft es! Obendrauf hättet ihr gerne eine ordentliche Portion authentisches China. Und auch das bekommt ihr, aber es gefällt euch nicht. Ihr regt euch maßlos

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