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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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gewesen war. Sein Chitinpanzer schob sich unter der Pforte hindurch in den angrenzenden Pergamonsaal. Wachsam ließ er die Fühler kreisen, zerlegte, was er sah, in Facetten der Wahrnehmung: Auf der gegenüberliegenden Seite des Riesenraumes das Pendant der Pforte, die er durchschritten hatte, winzig, beinahe verlegen ob ihrer kümmerlichen Abmessungen und zugleich tapfer, sehr tapfer, ein unermüdlich pumpender, viel zu enger Bypass in die Blutbahn des Bildungswesens. Zur Linken frei stehende Teile des Frieses auf Stelen und Sockeln, rechts der Tempel mit der Treppe, oben die Säulenhalle, der Durchlass zum Telephos-Saal, in dem Jericho und das Mädchen auf ein Dossier hofften, das sie nun nie erhalten und auch nicht mehr benötigen würden. Dabei wäre alles so einfach gewesen, so schnell gegangen. Um einhunderttausend Euro reicher, hätte er es ihnen ausgehändigt, das zweite Dossier. Das Duplikat, von dem außer ihm nur Nyela gewusst hatte –
    Hatte?
    Wie konnte er so sicher sein, dass sie tot war?
    Weil sie es war.
    Wunschdenken. Nicht Kerbtiersache.
    Vogelaars Kiefer mahlten. Zwischen Säulenhalle und Fußboden tummelten sich Touristen in Truppenstärke, manche auf den Stufen siedelnd, als gedächten sie dort ihr Mittagessen auszupacken. Vogelaar gewahrte eine Gruppe junger Leute mit Block und Bleistift, die Gesichter in Konzentration gefroren, versunken ins Gerangel der Unsterblichen. Ein paar Interessierte schauten ihnen über die Schultern. Sein Facettenblick tastete die Studenten der Reihe nach ab und hängte sich an einem blassen, spitznasigen Mädchen auf, das noch keine Bewunderer um sich versammelt hatte. Ohne Hast trat er neben sie. Auf der weißen Fläche ihres Papiers kämpfte Zeus gegen den Gigantenführer Porphyrion und beide gegen das Unvermögen des Mädchens, ihnen Leben einzuhauchen. Die Anzahl der Bleistifte neben ihr – zwanzig mochten es sein – stand sichtlich in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu ihrem Talent, so wie ihre ganze Ausstattung den Eindruck erweckte, als habe sie jeden Euro Trinkgeld, den das abendliche Kellnern ihr einbrachte, der Illusion geopfert, Equipment sei die halbe Kunst.
    Er beugte sich zu ihr herab und sagte freundlich:
    »Könnte ich mir wohl – Pardon! – einen Ihrer Bleistifte ausleihen?«
    Sie blinzelte ihn erschrocken an.
    »Nur einen Moment lang«, fügte er rasch hinzu. »Ich will mir schnell eine Notiz machen. Hab mein Schreibzeug vergessen, wie immer.«
    »Hm, jaaa«, sagte sie gedehnt. Offenbar beunruhigte sie der Gedanke, dass Bleistifte auch zur Produktion von Schrift taugten. Im nächsten Moment schien sie sich mit der Idee versöhnt zu haben. »Klar, sicher! Nehmen Sie irgendeinen.«
    »Sie sind sehr freundlich.«
    Er wählte einen langen, sauber gespitzten Stift, der ihm kräftiger erschien als die anderen, und richtete sich auf. Genau jetzt hatte Xin ihn im Blick, daran bestand kein Zweifel. Xin sah alles und würde aus allem, was er unternahm, Schlüsse ziehen, also blieben ihm nur Sekunden.
    Blitzschnell wandte er sich um.
    Mickey, wenige Schritte von ihm entfernt, glotzte ihn an wie eine Dogge, dann unternahm er einen halbherzigen Versuch, sich hinter einer Gruppe Spanisch sprechender Rentner zu verdrücken. Mit wenigen Schritten war Vogelaar bei ihm. Die Rechte des Iren zuckte zur Hüfte. Offenbar war Xin ihm die Anweisungen für das, was gerade vonstattenging, schuldig geblieben, denn er wirkte absolut hilflos. Seine Wangen wabbelten aufgeregt, sein Blick schoss hektisch hin und her, auf seiner Glatze staute sich der Schweiß.
    Vogelaar umspannte seinen Hinterkopf, zog ihn zu sich heran und rammte ihm den Bleistift ins rechte Auge.
    Ein markerschütternder Schrei entrang sich dem Iren. Er zappelte, Blut spritzte aus der Wunde. Vogelaar verstärkte den Druck seiner Handfläche auf das flache Ende des Stifts, trieb ihn tiefer in die Augenhöhle, fühlte die Spitze den Knochen durchbrechen und ins Gehirn eindringen. Mickey erschlaffte, Darm und Blase entleerten sich. Vogelaar ertastete die Waffe des Killers und riss sie aus ihrer Halterung.
    »Jericho!«, schrie er.
     

STAMPEDE
     
    Jericho hatte es vorgezogen, die Ankunft des Südafrikaners auf der gegenüberliegenden Seite des Tempels abzuwarten, verborgen hinter einer Phalanx frei stehender Skulpturen, die Möglichkeit im Sinn, dass Vogelaar ihn reinlegen würde. Was er nun sah, ängstigte ihn weit mehr. Es war überhaupt schlimmer als alles, was seine überhitzte Fantasie in den

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