Limit
riss sie zu sich hoch und presste ihr den Lauf der Pistole an die Schläfe. Das Kind erstarrte und begann zu weinen. Eine junge Frau schrie gellend auf, reckte die Hände, wurde von Fliehenden zur Seite geboxt, von ihrem Mann daran gehindert, sich in ihren sicheren Tod zu stürzen. Im nächsten Moment gingen beiderseits des Paars Uniformierte in Stellung, riefen etwas auf Deutsch, das Xin nicht verstand, aber natürlich wusste er auch so, was sie wollten. Ohne sie aus den Augen zu lassen, zerrte er das Mädchen zur Fensterfront und schaute hinab auf die Spreebrücke, auf der sich mittlerweile etliche Schaulustige eingefunden hatten.
Er beugte sich zu der Kleinen herab.
»Alles wird gut«, sagte er leise in ihr Ohr. »Versprochen.« Natürlich verstand sie kein Mandarin, doch das schlangenartige Zischen verfehlte seine hypnotisierende Wirkung nicht. Der kleine Körper entspannte sich. Sie wurde ruhig, atmete in flachen, kurzen Atemzügen wie ein Stallkaninchen.
»Gut so«, flüsterte er. »Hab keine Angst.«
»Marian!« Laute unerträglicher Qual entrangen sich der Mutter. »Marian!«
»Marian«, wiederholte Xin freundlich. »Sehr hübsch.«
Er zog den Abzug durch.
Entsetzen brandete auf, als die Scheibe, auf die er die Pistole blitzschnell geschwenkt hatte, unter dem Ansturm Dutzender Pfeilgeschosse zerbarst. Splitter flogen ihnen um die Ohren. Er schützte das Mädchen mit seinem Oberkörper, stieß sie von sich, kreuzte die Arme vor Kopf und Brust und sprang ins Freie. Noch während die Uniformierten der Situation Herr zu werden versuchten, war er drei Meter tiefer wie eine Katze zwischen den Schaulustigen gelandet und begann zu rennen.
JERICHO
Das Muntu war verschlossen. Kurzerhand feuerte Jericho zweimal auf das Schloss und erledigte den Rest mit einem Fußtritt. Die Tür knallte gegen die Innenwand. Er stürmte in den Gastraum, schaute hinter die Bar und zuckte zurück, doch der hellhäutige Schwarze, der ihn aus ratlosen Augen anstarrte, war eindeutig tot. In der Küche herrschte das Tohuwabohu vom Vortag. Niemand hatte aufgeräumt seit seinem Kampf mit Vogelaar.
Von Nyela keine Spur.
Außer sich pflügte er durch den Perlenvorhang, riss nacheinander die Toiletten auf, rüttelte an der Klinke der dritten Tür – Privat, verriegelt –, schoss auch dieses Schloss aus der Fassung. Eine ausgetretene Stiege führte ins Dunkel. Moder und Desinfektionsmittel. Der kalkige Geruch feuchten Verputzes. Erinnerungen an Shenzhen, an den Abstieg zur Hölle. Er zögerte. Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn. Am unteren Ende der Treppe flammte eine Gitterleuchte auf. Getünchter Verputz, fleckiger Estrich, eine zuckend entfliehende Spinne. Die Glock im Anschlag, nahm er Stufe um Stufe, fröstelnd, von Übelkeit übermannt. Kenny Xin. Animal Ma Liping. Wer oder was erwartete ihn hier unten? Welche Kreaturen würden sich diesmal auf ihn stürzen, welche Bilder sich auf ewig in seine Hirnwindungen brennen?
Seine Füße erreichten den Grund. Er schaute sich um. Ein kurzer Gang, verstellt mit Kisten und Fässern. Eine Stahltür, halb offen.
Er drang ein, nach allen Seiten sichernd.
Nyela!
Sie hockte, die Arme hinter den Rücken gebogen, auf dem Fußboden, Klebeband überm Mund. Ihre Augen leuchteten phosphoreszierend im Dämmerlicht. Mit raschen Schritten war er bei ihr, steckte die Glock ein, befreite sie von dem Band, legte den Finger an die Lippen. Nicht jetzt. Zuerst musste er ihre Fesseln lösen. Ihre Peiniger hatten sie an ein Heizungsrohr gekettet, kaum vorstellbar, dass der Schlüssel irgendwo herumlag, quasi als kleine Aufmerksamkeit für findige Detektive.
»Bin gleich wieder da«, flüsterte er.
Zurück in der Küche, zog er Schubladen auf, wütete in Stahl, Kupfer und Chrom, suchte die Arbeitsplatten ab, fand endlich, was er gesucht hatte, ein Fleischerbeil, eilte zurück in den Keller.
»Nach vorne lehnen«, befahl er. »Ich brauche Platz.«
Nyela nickte und drehte sich von ihm weg, sodass er freie Sicht auf ihre Hände hatte. Das Rohr war beunruhigend kurz. Nur wenige Zentimeter von ihren Gelenken bog es sich zur Wand und verschwand in krümeligem Mörtel. Er atmete tief durch, konzentrierte sich und ließ das Beil herniedersausen. Heller Glockenklang pflanzte sich durch den Heizkörper fort. Er runzelte die Stirn. Im Rohr hatte sich eine Delle gebildet, sonst nichts. Erneut schlug er zu, drei-, viermal, dann endlich platzte das Gestänge auf, sodass er es mit dem Griff des
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