Limit
ferne, pastellene Bergketten. Hunderte zu Flößen gefasster Baumstämme ruhten im flachen Wasser, Exponate der trotz Kahlschlag immer noch florierenden Holzindustrie. Keowa schloss die Augen und genoss den Fahrtwind. Warme Böen zerrten an ihren Haaren. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick in den Seitenspiegel.
Dicht hinter ihnen fuhr ein SUV, ein massiger, grauer Geländewagen mit abgedunkelten Scheiben.
Plötzlich überkam sie ein flaues Gefühl.
Sie überlegte, wie oft sie in der vergangenen Viertelstunde schon in den Seitenspiegel gesehen hatte? Wahrscheinlich ständig, ohne es zu registrieren. Keowa gehörte zur Sorte superwachsamer Beifahrer, andere fanden, dass sie bisweilen ganz schön nervte mit ihrem »Rot!« und »Grüner wird's nicht!« und »Pass doch auf, wo du hinfährst!«. Nichts entging ihr. Auch nicht, wer hinter ihnen fuhr.
Stirnrunzelnd wandte sie den Kopf.
Das Gefühl verdichtete sich zur Gewissheit. Jetzt war sie vollkommen sicher, dass der SUV schon seit dem Flughafen an ihnen klebte. Die Windschutzscheibe reflektierte den Himmel, sodass die beiden Insassen nur schemenhaft zu erkennen waren. Nachdenklich schaute sie wieder nach vorne. Das Band der Straße zog sich gleichförmig durch üppiges Grün, mittig geteilt durch einen angegilbten Grasstreifen, auf dem in unregelmäßigen Abständen Büsche und niedrige Bäumchen gepflanzt waren. Ein anderer Geländewagen kam ihnen entgegen, ebenfalls dunkel, ein weiterer.
Täuschte sie sich? Entwickelte sie eine putzige, kleine Paranoia? Wie viele dunkle SUVs gab es in Vancouver? Hunderte bestimmt. Tausende. Für Westkanadier waren Geländewagen so was Ähnliches wie Schneckenhäuschen für Einsiedlerkrebse.
Hör auf zu spinnen, dachte sie.
Andererseits konnte es nicht schaden, sich die Nummer des Wagens zu notieren. Sie zog ihr Handy hervor, als der SUV unvermittelt die Spur wechselte und auf gleiche Höhe mit ihnen zog, sodass sein Kennzeichen nun nicht mehr zu lesen war. Keowa kniff die Augen zusammen. Blödmann, dachte sie. Konntest du nicht noch ein paar Sekunden warten? Gerade wollte ich mir deine –
Der Geländewagen kam näher.
»He!« Sid hupte und gestikulierte mit einer Hand in Richtung des anderen Fahrzeugs. »Guck auf die Fahrbahn, Idiot!«
Noch näher.
»Was ist denn mit dem los?«, blaffte Sid. »Ist der besoffen?«
Nein, dachte Keowa, von plötzlicher Unruhe erfüllt, da ist niemand betrunken. Da weiß jemand sehr genau, was er tut.
Sid beschleunigte. Der SUV gab ebenfalls Gas.
»Was für ein blöder Idiot!«, schimpfte er. »Dem sollte man glatt –«
»Vorsicht!«, schrie der Praktikant.
Keowa sah den riesigen Wagen kommen, legte sich in den Gurt, versuchte, Abstand zwischen sich und die Tür zu bringen, dann prallte der SUV gegen die Flanke des Thunderbird und zwang ihn auf den Rasenstreifen. Sid fluchte und riss das Lenkrad herum, hektisch bemüht, nicht auf die Gegenfahrbahn zu gelangen. Wild schlingernd pflügten sie durch Erdreich, streiften niedrige Büsche, verpassten knapp einen Baum. Der Motor des Sportwagens jaulte auf. Sid gab Gas. Der Geländewagen zog an und rammte sie ein weiteres Mal, härter diesmal. Keowa hopste auf ihrem Sitz hin und her. Der metallische Aufschrei malträtierten Blechs hallte in ihren Gehörgängen wider, und plötzlich waren sie auf der Gegenfahrbahn, vernahmen aufgeregtes Hupen, wichen in letzter Sekunde aus, schrien durcheinander.
»Mein Wagen!«, heulte Sid. »Mein schöner Wagen!«
Mit verbissener Miene steuerte er den Thunderbird zurück auf den Grünstreifen, doch in diesem Abschnitt hatte jemand gesteigerten Wert auf Buschwerk gelegt. Geräuschvoll rasselten sie in eine Hecke. Zweige flogen nach allen Seiten davon, als der Sportwagen durch etliche Varianten von Niedrigvegetation bretterte. Zur Rechten raste der Geländewagen dahin und blockierte den Weg zurück auf die Fahrbahn. Sid bremste abrupt und versuchte hinter den SUV zu gelangen, der sein Vorhaben dadurch vereitelte, dass er ebenfalls langsamer wurde.
Im nächsten Moment schoss er wieder heran.
Diesmal war Sid schneller. Ohne dass es zur Kollision kam, kreuzte er die beiden Gegenspuren und schaffte es knapp vor einem Motorradfahrer in den Old Marine Drive, eine schmale, schlaglöchrige Straße, die einige Kilometer entlang der Überböschung bis zum Universitätsgelände führte, wo sie wieder auf die Hauptstraße mündete. Weit und breit war niemand zu sehen, dichtes, dunkles Grün wucherte zu
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