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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Schlüssel.
    Eben wollte er bei Repsol in Madrid anrufen, als es an der Haustür klingelte. Verwundert schaute er auf die Uhr. Zwanzig nach eins. Betrunkene? Es klingelte erneut. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, es zu ignorieren, dann ging er zur Gegensprechanlage und schaute auf den Bildschirm.
    Yoyo.
    »Was machst du denn hier?«, fragte er verblüfft.
    »Wie wär's, wenn du erst mal aufdrückst«, fuhr sie ihn an. »Oder muss ich meine Besuche vorher schriftlich anmelden?«
    »Es ist nicht gerade die Zeit, zu der man Besuch erwartet«, sagte er, als sie, den Motorradhelm unter den Arm geklemmt, sein Loft betrat. Yoyo zuckte die Achseln. Sie platzierte den Helm auf dem Küchenblock, schlenderte in den Wohnbereich und warf neugierige Blicke nach allen Seiten. Er folgte ihr.
    »Hübsch.«
    »Noch nicht ganz fertig.«
    »Trotzdem.« Sie deutete auf die angebrochene Flasche Shiraz. »Gibt's dazu ein zweites Glas?«
    Jericho kratzte sich irritiert hinterm Ohr, während sie aus ihrer Lederjacke schlüpfte und sich auf sein Sofa warf.
    »Natürlich«, sagte er. »Warte.«
    Er schaute zu ihr herüber und förderte ein weiteres Glas zutage. Im Dämmerlicht der Sitzinsel kündete rötliches Glimmen davon, dass sie sich eine Zigarette angezündet hatte. Nachdem er ihr eingegossen hatte, saßen sie einige Minuten da, tranken und schwiegen, und Yoyo ließ Rauchzeichen aus ihren Mundwinkeln quellen, verschlüsselte Begründungen für ihr Hiersein. Ihre Augen ruhten im Nichts. Von Zeit zu Zeit schienen die schweren Wimpernvorhänge das Gesehene wegwischen zu wollen, doch wann immer sie sich hoben, lag die gleiche Verlorenheit in ihrem Blick wie zuvor. Mehr denn je erinnerte sie ihn an das Mädchen auf dem Videofilm, den Chen Hongbing ihm vor anderthalb Wochen vorgespielt hatte.
    Anderthalb Wochen?
    Ebenso gut hätte es ein Jahr sein können.
    »Und was machst du gerade?«, fragte sie mit Blick auf Diane.
    »Ich wundere mich, was dich herführt.«
    »Wolltest du nicht ins Bett? Endlich mal schlafen?«
    »Ich hab's versucht.«
    Sie nickte und nebelte sich ein.
    »Ich auch. Ich dachte, es wäre einfacher.«
    »Schlafen?«
    »Weitermachen, wo man aufgehört hat. Aber es ist, als ob ich ins Leere greife. Manches existiert nicht mehr. Die Zentrale im Stahlwerk. Die Wächter. Dann Grand Cherokees Zimmer mit seinen Sachen drin, als käme er gleich zurück, gespenstisch. Andererseits, die Uni ist die Uni. Dieselben Hörsäle und Professoren. Dasselbe Korrektorat, das sich deiner annimmt, damit du später nicht auf zu viele eigene Ideen kommst. Derselbe Hühnerhof, dieselben Kämpfe und Nichtigkeiten. Ich höre Musik, gehe aus, sehe fern, sage mir, wie beschissen es anderen geht, dass ich tot sein könnte, und dass die Banalität des Alltäglichen durchaus ihr Gutes hat. Ich rede mir ein, wie erleichtert ich sein müsste.«
    Jericho legte die Beine übereinander. Er saß vor ihr auf dem Boden, den Rücken gegen einen Sessel gelehnt, und schwieg.
    »Und dann passiert, worauf ich mein Lebtag gewartet habe. Hongbing nimmt mich in den Arm, sagt, wie lieb er mich hat, und schüttet kübelweise Tragödien über mir aus. Die ganze entsetzliche Geschichte. Und ich weiß, ich müsste ein Feuerwerk abbrennen für diesen Moment, vor Mitleid vergehen, zerfließen vor Glück, ihm um den Hals fallen, die Schweine haben keine Macht mehr über uns, jetzt wird alles gut, wir können endlich miteinander reden, wir sind eine Familie! Stattdessen –«, sie malte Rauchschlangen in die Luft, »– denke ich, mein Kopf ist eine Kommode mit tausend Schubladen, jeder stopft rein, was ihm gerade gefällt, und jetzt kommt auch noch mein Vater! Ich denke, Yoyo, du mieser kleiner Krüppel, warum fühlst du denn nichts? Los jetzt, du musst fühlen, du hast dir doch gewünscht, dass –« Sie fingerte nach ihrem Glas, stürzte den Inhalt herunter und sog den Rest Leben aus ihrer Zigarette. »So sehr gewünscht, dass er mit dir redet! Noch als Kenny seine verdammte Waffe an meinen Kopf gehalten hat, dachte ich, nein! Ich will nicht sterben, ohne erfahren zu haben, was sein Leben so aus der Bahn geworfen hat. – Aber jetzt, wo ich es weiß, komme ich mir einfach nur – vollgestopft vor.«
    Jericho drehte sein Glas zwischen den Fingern.
    »Und zugleich ausgehöhlt«, fuhr sie fort. »Das ist doch widersinnig, oder? Nichts berührt mich! Als ob das nicht die Welt ist, wie ich sie kannte, sondern eine bloße Kopie davon. Alles kommt mir vor wie aus

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