Limonow (German Edition)
den Beruf des Journalisten malt sich Eduard zunächst in den schillerndsten Farben aus, er denkt an Hemingway, an Henry Miller und Jack London, die alle in ihren Anfängen Journalisten gewesen waren, doch – wie Brodsky es vorausgesagt hat – die Art und Weise, in der man bei der Russkoje Delo arbeitet, kann man nicht unbedingt als lebhaft bezeichnen. Seine Arbeit besteht darin, Artikel von anderen New Yorker Zeitungen zu übersetzen und für die Interessen der russischen Leser zusammenzufassen, wobei diese hinsichtlich der Aktualität der Nachrichten keine hohen Ansprüche stellen, denn sie erhalten sie per Abonnement mit drei Tagen Verspätung. Neben diesen Ersatzversionen von Information beinhaltet die Zeitung ein unendlich langes Feuilleton mit dem Titel Das Schloss der Prinzessin Tamara , Küchenrezepte, die alle mehr oder weniger Variationen von Kascha sind, und vor allem Briefe oder Artikel (die Grenze ist nicht besonders scharf gezogen) von antikommunistischen Schreibsüchtigen. Die Redakteure sind alte Juden mit Hosenträgern, die kaum Englisch sprechen, obwohl sie seit fast fünfzig Jahren in Amerika leben, denn die meisten von ihnen emigrierten kurz nach der Revolution; der älteste von ihnen erinnert sich sogar an die noch davor liegenden Besuche Trotzkis bei der Zeitung. Leo Dawidowitsch, erzählt der Alte jedem, der gewillt ist zuzuhören, wohnte in der Bronx und lebte von Kerzenstummeln, während er vor leeren Sälen Vorträge über die Weltrevolution hielt. Die Kellner der kleinen Restaurants, in denen er seine Mahlzeiten zu sich nahm, hassten ihn, weil er meinte, es verletze ihre Würde, ihnen Trinkgelder zu geben. Im Jahr 1917 kaufte er für 200 Dollar Möbel auf Raten, verschwand dann, ohne eine Adresse zu hinterlassen, und als die Kreditanstalt seine Spur wiederfand, befehligte er die Armee des größten Landes der Erde.
Da mag man Eduard seine ganze Kindheit lang eingetrichtert haben, Trotzki sei der Feind der Menschheit – er bewundert dieses spektakuläre Schicksal. Auch Porphyr hört er gerne zu, einem jüngeren Ukrainer, der den Krieg anfangs in der Roten Armee erlebte und nach einer Übergangszeit in der Wlassow-Armee, einem Verband von Weißrussen, die an der Seite der Deutschen kämpften, den Rest als Aufseher in einem Lager in Pommern verbrachte. Ein kleines, harmloses Kriegsgefangenenlager, präzisiert dieser, kein Vernichtungslager. Trotzdem, er hat Menschen getötet, und er spricht davon, ohne zu prahlen. Einmal gesteht Eduard ihm, er sei sich nicht sicher, ob er dazu fähig wäre. »Na klar bist du das«, beruhigt ihn Porphyr. »Wenn du unter Zugzwang stehst, tust du’s wie alle anderen, mach dir mal keine Sorgen.«
Die Atmosphäre bei der Russkoje Delo ist gemächlich, verstaubt und sehr russisch. Morgens einen Kaffee, stündlich stark gesüßten Tee und fast jeden zweiten Tag ein Geburtstag, der rechtfertigt, dass man die sauren Gurken, den Wodka und für die Linotypesetzer den Cognac Napoléon herausholt, auf den sie sich eine Menge einbilden. Man nennt sich ellenlang »mein Lieber« und »Eduard Wenjaminowitsch«, und alles in allem ist es ein gemütlicher Ort und beruhigend für jemanden, der gerade erst angekommen ist und kein Englisch spricht. Aber es ist auch eine Sterbeanstalt, wo die Hoffnungen von Leuten strandeten, die sicherlich im Glauben nach Amerika kamen, dass dort ein neues Leben auf sie warte, und die in dieser molligen Lauheit kleben blieben, in der Nostalgie, den endlosen Querelen und sinnlosen Hoffnungen auf eine Rückkehr. Das schwarze Schaf von allen, schwärzer noch als die Bolschewiken, ist Nabokov. Nicht weil Lolita sie schockiert (obwohl, irgendwie schon ein bisschen), sondern weil er aufgehört hat, Romane von Emigranten für Emigranten zu schreiben und ihrer kleinen, ranzigen Welt seinen langen Rücken zugekehrt hat. Eduard schätzt Nabokov aus Klassenhass und Verachtung von Literatur für Literaten auch nicht mehr als seine Kollegen, aber er möchte ihn weder aus denselben Gründen verachten wie diese, noch will er länger in diesen Gemäuern ausharren, die nach Grab und billigem Fusel riechen.
Ein Schriftsteller, der von sich reden machen will, hat, vereinfacht gesagt, die Wahl zwischen dem Erfinden von Geschichten, dem Erzählen von wahren Begebenheiten oder dem Äußern seiner Ansichten über den Lauf der Welt. Eduard hat keinerlei Erfindungsgabe, seine Chroniken über die Kleinkriminellen von Charkow oder den Moskauer Underground , die er
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