Limonow (German Edition)
Dreiviertelstundentakt seinen ganzen Tag widmete. Er öffnete die Tür zu seiner Suite im Carlton selbst. Mit seinem schlabberigen T-Shirt, seiner Bauarbeiterhose und seinen schweren, alten Wanderschuhen sah er aus, als sei er gerade bei Sturm aus seinem Zelt im Basislager am Everest gekrochen, und natürlich lächelte er nicht: Alles war also in Ordnung. Ich dagegen lächelte, und zwar viel zu viel. Ich fürchtete, dass der Pressesprecher ihn möglicherweise nicht informiert hatte und Herzog nicht in der Lage sein würde, mich von den anderen Journalisten zu unterscheiden, doch als wir uns setzten, sah ich mein Buch auf dem niedrigen Tisch liegen, und ich stotterte etwas auf Englisch wie: »Ah, sie haben es erhalten, ich weiß, dass sie es nicht lesen können, aber …«
Ich unterbrach mich und hoffte, er würde den Faden aufnehmen. Er schaute mich einen Augenblick lang schweigend an, mit einem Ausdruck von strenger Weisheit, wie man ihn wohl von Martin Heidegger oder Meister Eckhart erwarten würde, dann sagte er mit einer sehr tiefen und gleichzeitig sehr leisen Stimme, einer absolut großartigen Stimme – ich erinnere mich genau an den Wortlaut: » I prefer we dont’t talk about that. I know it’s bullshit. Let’s work. «
Let’s work , das sollte heißen: Wir machen das Interview, das muss ja wohl sein, das gehört zu den lästigen, aber unvermeidbaren Nebenerscheinungen wie die Moskitos im Amazonas. Ich war so schüchtern und so überrascht, dass ich statt – ja, statt was? Statt aufzustehen und zu gehen? Ihm eine reinzuhauen? Was wäre die angemessene Reaktion gewesen? – das Tonband einschaltete und die erste Frage stellte, die ich vorbereitet hatte. Er beantwortete sie wie auch alle nachfolgenden Fragen mit großer Professionalität.
Eine letzte Geschichte, bevor ich auf Limonow zurückkomme. Sie ereignet sich im September 1973, ihre Helden sind Sacharow und seine Frau Elena Bonner, sie verbringen ein paar Tage am Schwarzen Meer. Am Strand spricht ein Mann sie an. Er ist Akademiker und drückt Sacharow seine Bewunderung sowohl für ihn als Wissenschaftler wie auch als Staatsbürger aus, er sei der Stolz seines Landes und so weiter. Sacharow dankt ihm gerührt. Zwei Tage später erscheint in der Prawda ein großer Artikel, in dem Sacharow von vierzig Wissenschaftlern denunziert wird – und in dessen Folge er für fünfzehn Jahre nach Gorki verbannt wird. Unter den Unterzeichnern befindet sich der Typ, der am Strand so herzlich an ihn herangetreten war. Als Elena Bonner das entdeckt, ergeht sie sich in Flüchen: Was für ein hinterletzter Widerling! Ein Zeuge, der später diese Geschichte weitererzählt, schaut Sacharow an und wundert sich, dass dieser sich nicht empört oder ungehalten wird. Stattdessen denkt er nach . Sacharow untersucht das Problem als Wissenschaftler, und es besteht nicht darin, dass das Verhalten des Akademikers unerfreulich, sondern dass es unverständlich ist.
Mir ist nicht bekannt, ob er eine Erklärung gefunden hat – oder aber, so würde Alexander Sinowjew sagen, die Erklärung liegt in der sowjetischen Gesellschaft insgesamt. Ich meinerseits suche eine Erklärung für das Verhalten Werner Herzogs. Was für eine Befriedigung konnte er darin finden, grundlos und doch überlegt einen jungen Mann zu verletzen, der zu ihm kam, um ihm seine Bewunderung auszudrücken? Herzog hatte das Buch nicht gelesen, und selbst wenn es schlecht war, tat das nichts zur Sache. Ich bedaure es, von einem so belastenden Zug eines Menschen zu berichten, den ich trotz allem bewundere und dessen jüngere Werke mich glauben lassen, dass er Ähnliches nicht mehr tun und es ihn sehr überraschen würde, wenn man ihn an diesen Vorfall erinnerte; und doch will diese Geschichte etwas sagen, das mich genauso betrifft wie ihn.
Ein Freund, dem ich von meinem Missgeschick erzählte, gab mir lachend zurück: »Das wird dich lehren, Faschisten zu bewundern …« Das war schnell geschossen, doch, wie ich glaube, richtig. Herzog, der zu leidenschaftlichem Mitleid für einen taubstummen Ureinwohner oder einen schizophrenen Landstreicher fähig war, betrachtete einen jungen Kinoliebhaber mit Brille wie eine Wanze, die es verdiente, seelisch zertreten zu werden; und ich meinerseits war der ideale Gegenpart, um mich auf diese Art und Weise behandeln zu lassen. Mir scheint, man berührt da etwas vom Nerv des Faschismus.
Was findet man, wenn man diesen Nerv freilegt? In der radikalen Variante eine offenbar
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