Limonow (German Edition)
skandalöse Weltsicht: Übermenschen und Untermenschen, Arier und Juden, ja, aber das ist es nicht, wovon ich sprechen will. Ich will weder von Neonazis reden noch von der Vernichtung vermeintlich Minderwertiger und nicht einmal von der mit unerschütterlicher Ehrlichkeit gezeigten Verachtung Werner Herzogs, sondern von der Art und Weise, wie sich jeder von uns mit der offensichtlichen Tatsache abfindet, dass das Leben ungerecht ist und die Menschen verschieden: mehr oder weniger hübsch, mehr oder weniger begabt, mehr oder weniger für den Kampf gewappnet. Nietzsche, Limonow und diese Instanz in uns, die ich den Faschisten nenne, sagen einstimmig: »Das ist die Wirklichkeit, so ist eben die Welt.« Was soll man sonst sagen? Was wäre auch das Gegenteil dieser unumstößlichen Tatsache?
»Das weiß man doch, was das ist«, antwortet der Faschist. »Es trägt den Namen fromme Lüge, linkes Gutmenschentum oder political correctness , und es ist weiter verbreitet als die Scharfsichtigkeit.«
Ich dagegen würde sagen: das Christentum. Die Vorstellung, dass in jenem Königreich, das sicher nicht das Jenseits, sondern die Realität der Realität ist, der Kleinste der Größte ist. Oder der Gedanke, der in einem buddistischen Sutra formuliert ist, das mir mein Freund Hervé Clerc zur Kenntnis gebracht hat: »Der Mensch, der sich einem anderen Menschen gegenüber für überlegen, unterlegen oder selbst für gleichwertig hält, begreift die Wirklichkeit nicht.«
Diese Vorstellung hat vielleicht nur im Rahmen einer Doktrin einen Sinn, die das »Ich« als Illusion betrachtet, und wenn man dieser nicht anhängt, drängen sich tausend Gegenbeispiele auf; unser ganzes Gedankensystem beruht auf einer Hierarchie der Verdienste, derzufolge beispielsweise Mahatma Gandhi eine höherstehende menschliche Persönlichkeit ist als der pädophile Mörder Marc Dutroux. Ich nehme absichtlich ein schwer anfechtbares Beispiel, viele andere sind streitbarer, die Kriterien variieren, und im Übrigen betonen auch die Buddhisten die Notwendigkeit, hinsichtlich der Lebensführung den Integren vom Verdorbenen zu unterscheiden. Dennoch, und obwohl ich meine Zeit damit verbringe, derartige Hierarchien aufzustellen, und auch wenn ich wie Limonow nicht einem meiner Mitmenschen begegnen kann, ohne mich mehr oder minder bewusst zu fragen, ob ich über oder unter ihm stehe und daraus Erleichterung oder Kränkung beziehe, denke ich, diese Vorstellung ist der Gipfel der Weisheit – ich wiederhole sie noch einmal: »Der Mensch, der sich einem anderen Menschen gegenüber für überlegen, unterlegen oder selbst für gleichwertig hält, begreift die Wirklichkeit nicht« –, und ein Leben allein reicht nicht aus, um sie auf sich wirken zu lassen, sie zu verdauen und sie sich so einzuverleiben, dass sie aufhört, eine Vorstellung zu sein, und stattdessen ungeachtet der Umstände Blick und Handlungen leitet. Dieses Buch zu schreiben ist für mich eine bizarre Art und Weise, daran zu arbeiten.
3
Außer dass ich für Télérama schrieb, moderierte ich eine wöchentliche Sendung für ein freies Radio, und als Limonows Tagebuch eines Versagers erschien, lud ich ihn ein. Ich holte ihn mit dem Motorrad ab. Er bewohnte eine spartanisch eingerichtete Einzimmerwohnung im Marais; auf dem Boden lagen Hanteln herum und auf dem Tisch neben der Schreibmaschine ein Gerät mit Spiralfedern zum Trainieren der Handmuskeln. Mit seinem engen, Brustmuskeln und Bizeps betonenden T-Shirt und seinem Bürstenhaarschnitt sah er aus wie ein Fallschirmjäger, aber einer mit dicker Brille und etwas eigentümlich Kindlichem in Gestalt, Gesicht und Ausdruck. Ich hatte bereits einen Artikel über sein Buch geschrieben, und dieser war von einem Foto begleitet gewesen, das ihn mit Irokesenkamm, Piercings und in einer kompletten Punkausstattung zeigte, die wahrscheinlich aus der Zeit seiner Ankunft in Frankreich stammte und schon wieder aus der Mode war; und eine seiner ersten Bemerkungen war, man hätte doch wohl ein neueres Foto nehmen können. Es schien ihn ernstlich zu ärgern.
Ich erinnere mich kaum noch an die Sendung. Im Anschluss fuhr ich ihn nach Hause, und wir verabschiedeten uns, ohne dass ich vorschlug, noch ein Glas trinken zu gehen oder uns bei Gelegenheit wiederzusehen. Gleichwohl war das die Art, wie Limonow in Paris seine ersten Freunde fand: Viele waren freie Journalisten, Moderatoren von freien Radiosendern oder Verlegerneulinge wie ich. Leute zwischen zwanzig und
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