Limonow (German Edition)
gute Freunde.
Ich habe Natascha Medwedewa nur einmal flüchtig gesehen, bei Olivier Rubinstein, der mit beiden viel verkehrte. Sie war ein Ereignis: groß, majestätisch, die kräftigen Schenkel in Netzstrumpfhosen gehüllt, frisiert wie ein gestohlenes Auto und, laut Olivier, der sie trotzdem sehr mochte, eine »totale Nervensäge«. Eduard war schwer verliebt in sie – was bei der Komtesse ganz und gar nicht der Fall gewesen war. In Natascha sah er eine Aristokratin nach seinem Geschmack: ein Mädchen von der Straße, eine Gesetzlose, wie er selbst in einer grauen sowjetischen Vorstadt geboren und ausgezogen, um die weite Welt mit keinem anderen Trumpf zu erobern als ihrer aufsehenerregenden Schönheit, ihrer Altstimme und dem brutalen Humor einer Überlebenden. Sie waren Liebende, leidenschaftlich Liebende, aber auch Bruder und Schwester; und selbst wenn er sich in der Rolle des Prolls gefiel, der die Komtesse erregte, hatte diese Fantasie weniger Wirkung auf ihn als die des fast inzestuösen Abenteurer-Paars, das derselben Misere entkommen war und sich vereint hatte, um der bösen Welt mit einem Pakt auf Leben und Tod zu trotzen. Eduard war ein leidenschaftlicher Verführer, doch von Grund auf monogam. Er glaubte, jeder sei in seinem Leben dazu bestimmt, eine gewisse Anzahl von Menschen zu treffen, und diese Anzahl stehe fest, und waren diese Chancen einmal verspielt, gab es keine weiteren mehr. Er hatte Anna verlassen, weil er eine Bessere als sie gefunden hatte. Elena hatte ihn verlassen, weil sie glaubte, etwas Besseres als ihn gefunden zu haben. Natascha würde die Richtige sein, denn sie waren einander ebenbürtig: zwei verlorene Kinder, die sich auf den ersten Blick erkannt hatten und sich nicht wieder verlassen würden.
Im Buch der Toten erzählt er eine hübsche Geschichte von einem Besuch bei Sinjawski. Andrei Sinjawski, ein talentierter Schriftsteller und Dissident der ersten Stunde, hatte Pasternaks Sarg zu Grabe getragen und nach einem fast so berühmten Prozess wie dem von Brodsky einige Jahre in Sibirien verbracht. Er war der Archetyp der langbärtigen russischen Denker, die auch in der Emigration nur mit Russen auf Russisch von Russland sprachen, all das, was Eduard verabscheute; dennoch war er Sinjawski zugetan und besuchte ihn ab und zu in seinem mit Büchern vollgestopften, kleinen Haus in Fontenay-aux-Roses. Seine Frau und er rührten ihn, er fand sie gastfreundlich und geradlinig, und obwohl sie kaum älter waren als er, dachte er an sie wie an Eltern. Sinjawskis Frau wachte darüber, dass ihr Mann seiner Gesundheit zuliebe nicht trank, aber sobald Andrei Donatowitsch doch einmal zu tief ins Glas geschaut hatte, wurde seine Ernsthaftigkeit sentimental, er schloss die Leute in die Arme und sagte ihnen, er liebe sie.
Am Tag, als Eduard Natascha zu ihnen mitnahm, tranken sie Tee und später Wodka, aßen Heringe und saure Gurken; sie bildeten eine herzliche kleine russische Insel in der Pariser Vorstadt, und auf ihre Bitte hin begann Natascha zu singen. Sie sang Romanzen und Balladen vom Großen Patriotischen Krieg, von rettungslos verlorenen Bataillonen, von an der Front gefallenen Soldaten und ihren Verlobten, die auf sie warteten. Nataschas Stimme war betörend, heiser und tief; und alle, die sie kannten, sagen, wenn sie sang, sah man ihr ganz einfach bis auf die Seele. Als sie beim Blauen Tuch ankam – einem Lied, das niemand, ob Frau oder Mann, der nach dem Krieg in der Sowjetunion geboren ist, hören kann, ohne zu weinen –, waren alle so ergriffen und überwältigt, dass keiner mehr wagte, die anderen anzuschauen. Als sie gehen wollten und Sinjawski Eduard schniefend und mit immer noch von Tränen geröteten Augen umarmte, sagte er ihm halblaut: »Was für eine Frau Sie haben, Eduard Wenjaminowitsch! Was für eine Frau! Wie müssen Sie stolz sein!«
Natascha wurde als Sängerin im russischen Nachtklub Raspoutine engagiert. Nach ihren Auftritten kam sie spät und oft betrunken nach Hause. Als er entdeckte, dass sie schon vom Aufstehen an zu trinken begann, musste er sich eingestehen: Was er zunächst für einen ordentlichen Durst gehalten hatte, war in Wirklichkeit Alkoholismus. Diese Unterscheidung ist nie leicht zu treffen und für Russen noch schwieriger, doch Eduard traf sie auf eigene Kosten. Er selbst konnte im Verlauf eines Abends eine unverschämte Menge Alkohol hinunterkippen und dann drei Wochen lang nur Wasser trinken, und selbst das heftigste Besäufnis hinderte ihn nie
Weitere Kostenlose Bücher