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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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im Übrigen immer noch sei, würde er Arme hassen und ihnen nie auch nur einen Cent geben. Nach diesem Ausbruch ist er still, und man bittet ihn nicht mehr um seinen Beitrag. Abends in der Hotelbar verpasst er einem englischen Autor eine mit der Faust aufs Maul, weil dieser schlecht über die Sowjetunion spricht. Andere Schriftsteller wollen dazwischengehen, doch statt die Sache fallen zu lassen, beginnt Eduard wie ein Besessener um sich zu schlagen, und das Ganze entwickelt sich zu einer allgemeinen Prügelei, auf deren Höhepunkt, laut Echenoz, die ehrwürdige Nadine Gordimer einen Schlag mit einem Barhocker abbekommt. Aber das ist es nicht, wovon ich erzählen wollte.
    Was ich erzählen wollte, trägt sich in einem Kleinbus zu, der die Kongressteilnehmer von irgendeinem runden Tisch zum Hotel zurückbringt. An einer Ampel ordnet sich ein Militärfahrzeug neben dem Kleinbus ein, und in dessen Inneren macht sich ein wohliges Raunen des Entsetzens breit: »Die Rote Armee! Die Rote Armee!« Mit ihren aufgeregt an die Scheiben gepressten Nasen benimmt sich diese Bande von bürgerlichen Intellektuellen wie eine Horde von Kindern im Kasperletheater, wenn der große böse Wolf aus den Kulissen springt. Eduard schließt befriedigt lächelnd die Augen. Sein Land ist noch in der Lage, den Weicheiern aus dem Westen Angst einzujagen: Alles ist noch in Ordnung.
    Mit Ausnahme von Solschenizyn waren sich die russischen Emigranten seiner Generation sicher, niemals wieder zurückzukehren; sie waren überzeugt, das Regime, vor dem sie geflohen waren, würde, wenn nicht Jahrhunderte, dann zumindest bis über ihren Tod hinaus fortbestehen. Was in der Ud SSR vor sich ging, verfolgte Eduard eher aus der Ferne. Er glaubte, sein Vaterland halte unter dem Packeis Winterschlaf und er lebe besser weit von ihm entfernt, aber es bleibe so mächtig und verdrießlich, wie er es immer schon gekannt hatte, und dieser Gedanke beruhigte ihn. Das Fernsehen zeigte die immergleichen Militärparaden vor einer Schar versteinerter Greise mit ordenbehangener Brust. Breschnew tat schon lange keinen Schritt mehr, ohne dabei von anderen gestützt zu werden. Als er endlich nach achtzehn Jahren der Unbeweglichkeit und der Leninpreise für seinen unschätzbaren theoretischen Beitrag zum Verständnis des Marxismus-Leninismus verschied, setzte man Andropow an seine Stelle, einen Tschekisten, der in den informierten Kreisen als hart, aber intelligent galt, und den man später unter den Konservativen eines gewissen Kults huldigte und als Mann betrachtete, der den Kommunismus hätte reformieren können, statt ihn zu zerstören, hätte er nur länger gelebt. Seine Inthronisierung amüsierte vor allem Limonow, denn er erinnerte sich, fünfzehn Jahre zuvor mit seiner Tochter geflirtet zu haben. Doch Andropow starb nach nicht einmal einem Jahr, und man hievte den dahinsiechenden Tschernenko auf seinen Thron. Ich erinnere mich noch an die Schlagzeile in der Libération : »L’ URSS vous présente ses meilleurs vieux«, in der die Alten (»vieux«) die Wünsche (»vœux«) ersetzten und aus dem Ausdruck »Die Ud SSR übermittelt Ihnen ihre besten Wünsche« »Die Ud SSR stellt Ihnen ihre fähigsten Alten vor« machten. Meine Freunde und mich brachte es zum Lachen, doch Eduard, der es hasst, wenn man sich über sein Land mokiert, fand es überhaupt nicht witzig. Kurz darauf starb auch Tschernenko, und Gorbatschow wurde auf seinen Posten gesetzt.
    Nach diesem Aufzug von Mumien, die man eine nach der anderen unter die Erde brachte, nahm Gorbatschow alle für sich ein – ich meine alle bei uns  –, denn er war jung, konnte sich ohne Gehhilfe fortbewegen, hatte eine lächelnde Frau und liebte offensichtlich den Westen. Mit ihm würde man sich verstehen können. Die damaligen Kreml-Experten studierten gründlich die Zusammenstellung des Politbüros, innerhalb dessen sie, mit ein paar Grautönen in der Mitte, zwischen Liberalen und Konservativen unterschieden. Es wurde deutlich, dass mit Gorbatschow und seinen Beratern Jakowlew und Schewardnadse die Liberalen im Aufwind waren, aber auch von den Liberalsten der Liberalen erwartete man nicht mehr als eine gewisse innen- und außenpolitische Entspannung: korrekte Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, ein bisschen guten Willen auf internationalen Konferenzen, ein paar Dissidenten weniger in den Psychiatrien … Die Vorstellung, dass sechs Jahre nach Gorbatschows Inthronisierung auf dem Posten des Generalsekretärs der

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