Limonow (German Edition)
sondern dachte eher an ein begrenztes und kontrollierbares Zugeständnis, als er in einer Rede zum siebzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution vor allen Würdenträgern des weltweiten Kommunismus wie Honecker, Jaru- zelski, Castro, Ceauşescu und Daniel Ortega aus Nicaragua (die in den Folgejahren außer Castro alle stürzten, und nicht zuletzt wegen dieser Rede) das Wort Glasnost aufbrachte, was Transparenz bedeutet, und seine Absicht bekannt gab, »die Lücken in der Geschichte« schließen zu wollen. In dieser Rede sprach er von »Hunderttausenden« von Opfern des Stalinismus, während es sich um Dutzende von Millionen handelte, doch das war egal, das grüne Licht war gegeben und die Büchse der Pandora geöffnet.
Von 1988 an wurde das öffentlich, wozu bis dahin einzig die intellektuelle Elite in Form des Samisdat oder heimlich importierter ausländischer Editionen Zugang gehabt hatte, und die Russen packte eine wahre Lesewut. Jede Woche erschien ein neues Buch, das bis dahin verboten gewesen war. Die hohen Auflagen waren schnell ausverkauft. Man sah Leute, die im Morgengrauen an den Kiosken Schlange standen und dann in der Metro, im Bus oder selbst im Gehen auf der Straße wie Besessene das lasen, was sie sich ergattert hatten. Eine Woche lang las ganz Moskau Doktor Schiwago und sprach nur noch davon, in der Folgewoche war es Leben und Schicksal von Wassili Grossman und in der nächsten Orwells 1984 oder die Bücher des großen englischen Vordenkers Robert Conquest, der bereits seit den sechziger Jahren die Geschichte der Kollektivierungen und Säuberungen geschrieben hatte und sich von allem, was im Westen darum besorgt war, das Proletariat nicht zu entmutigen, als CIA -Agent hatte beschimpfen lassen müssen. Eine Gruppe von Dissidenten gründete unter der Schirmherrschaft von Sacharow den Verein Memorial, der sich ähnlich wie Yad Vashem in Jerusalem zum Ziel setzte, Anna Achmatowas Wunsch in Requiem zu erfüllen: »Gern hätt’ ich euch alle beim Namen genannt.« Es ging darum, die Opfer der Repression zu benennen, die nicht nur getötet, sondern auch aus der Erinnerung gelöscht worden waren. Anfangs zögerte Memorial, das Wort »Millionen« zu gebrauchen, dann rang man sich durch, und es war, als habe man es immer schon gewusst und nur noch auf das Recht gewartet, es laut sagen zu dürfen. Die Parallele zwischen Hitler und Stalin wurde zu einem Allgemeinplatz. Man konnte sich sicher sein, bei einer Debatte zu punkten, wenn man die Theorie der 5% in Erinnerung rief, die vom Väterchen der Völker formuliert worden war (und die im Groben besagte: Wenn auf alle Verhafteten 5% Schuldige kommen, ist das schon sehr viel), oder wenn man den Ausspruch seines Justizkommisars Krylenko zitierte: »Man sollte nicht nur Schuldige exekutieren, die Exekution von Unschuldigen macht viel mehr Eindruck.« Alexander Jakowlew, der Hauptberater Gorbatschows, erinnerte selbst in einer Rede daran, dass Lenin der erste Politiker gewesen war, der das Wort »Konzentrationslager« gebraucht hatte. Diese Rede war ganz offiziell zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution gehalten worden, das heißt weniger als zwei Jahre nach jener Gorbatschows, die den Anstoß zu Glasnost gegeben hatte, was eine Vorstellung davon gibt, mit welcher Geschwindigkeit welche Wegstrecke zurückgelegt wurde. Derselbe Jakowlew erklärte im gleichen Jahr im Fernsehen, das Dekret zur Rehabilitierung all jener, die seit 1917 unter Repressionen gelitten hatten, sei nicht im Geringsten als mildtätige Maßnahme zu verstehen, wie es Leute aus der Partei behaupteten, sondern als eine der Reue: »Nicht wir verzeihen ihnen, sondern wir bitten sie um Verzeihung. Das Ziel dieses Dekrets ist, uns zu rehabilitieren, uns, die wir durch Schweigen und Wegsehen zu Komplizen dieser Verbrechen wurden.« Und letztendlich wurde es zur gängigen Meinung, dass das Land siebzig Jahre lang in den Händen einer Gang von Kriminellen gelegen hatte.
Es ist die Befreiung der Geschichtsschreibung, die den Zusammenbruch der kommunistischen Regimes in Osteuropa herbeigeführt hat. Von dem Tag an, da die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Ribbentrop-Molotow-Pakt bestätigt wurde, wodurch 1939 Nazideutschland der Ud SSR wie Schmiergeld die baltischen Staaten zugeschoben hatte, besaßen diese ein unabweisliches Argument, um ihre Unabhängigkeit einzufordern. Es genügte zu sagen: »Die sowjetische Besatzung 1939 war illegal und ist es auch fünfzig Jahre später
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