Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
Vom Netzwerk:
noch, also verschwindet.« Auf solche Argumente hätte die Ud SSR vormals mit dem Aufrollen von Panzern reagiert, aber diese Zeit war vorbei, und so wurde 1989 zum Jahr der Wunder in Europa. Was Solidarność in Polen zehn Jahre gekostet hatte, das erreichten die Ungarn in zehn Monaten, die Ostdeutschen in zehn Wochen und die Tschechen in zehn Tagen. Außer in Rumänien gab es keine Gewalt: sanfte Revolutionen, die im allgemeinen Taumel geistige Helden wie Václav Havel an die Macht brachten. Man umarmte sich auf den Straßen. Die Leitartikler diskutierten allen Ernstes die These eines amerikanischen Akademikers, der »das Ende der Geschichte« für erreicht erklärte. Alle Kleinbürger Westeuropas, darunter ich, verbrachten Silvester in Prag oder Berlin.
    In Paris gab es zwei Menschen, die nicht in diesen Jubel einstimmten: meine Mutter und Limonow. Meine Mutter freute sich über den Zerfall des sowjetischen Blocks, weil sie diesem einerseits als Kind von Weißrussen feindselig gegenüberstand und andererseits dessen Zusammenbruch bereits angekündigt hatte. Aber sie ertrug es nicht, dass man ihn Gorbatschow zuschrieb. Ihr zufolge geschah das alles wider seinen Willen (und ich glaube, sie hatte recht, doch genau das macht aus ihm eine so faszinierende Figur der Geschichte). Er befreite nichts und niemanden, sondern ließ es zu, dass man ihn beim Wort nahm und unter Zugzwang setzte, und bremste dann so gut es ging genau den Prozess wieder aus, den er unvorsichtigerweise selber ins Rollen gebracht hatte. Er war ein Zauberlehrling, ein Demagoge und ein Hinterwäldler zugleich, der, was ihn bei meiner Mutter endgültig in Ungnade fallen ließ, ein scheußliches Russisch sprach.
    All das sah Eduard genauso. Die Popularität von Gorbi, wie ihn diejenigen zu nennen begannen, die Mitterrand Tonton tauften, hatte ihn von Anfang an genervt: Der Chef der Sowjetunion ist nicht dazu da, um kleinen bescheuerten Journalisten aus dem Westen zu gefallen, sondern um sie das Fürchten zu lehren. Wenn naive Freunde zu Eduard sagten: »Was für ein toller Typ, das freut dich bestimmt«, reagierte er darauf wie ein gestandener Katholik, dem man dazu gratuliert, dass Eugen Drewermann Papst geworden ist. Er mochte weder Glasnost noch das Mea culpa der Macht und am allerwenigsten, dass diese, um dem Westen zu schmeicheln, Territorien aufgab, die man mit dem Blut von zwanzig Millionen Russen erobert hatte. Er mochte nicht hinsehen, wie Rostropowitsch jedes Mal, wenn eine Mauer fiel, auf ihre Trümmer eilte, um mit seinem Cello und erleuchteter Miene Suiten von Bach zu spielen. Und er hasste es, wenn er in einem Army shop einen Soldatenmantel der Roten Armee fand und bemerkte, dass die Messingknöpfe seiner Kindheit durch Plastikknöpfe ersetzt worden waren. Nur ein Detail, aber für ihn sagte es alles: Was für ein Selbstbild sollte ein Soldat entwickeln, der gezwungen war, Uniformknöpfe aus Plastik zu tragen? Wie sollte er damit kämpfen? Wem sollte er Angst einjagen können? Wer hatte diese Idee gehabt, glänzendes Messing durch gerührte Scheiße zu ersetzen? Sicher nicht das Oberkommando, eher ein idiotischer Durchschnittstyp, der im hintersten Winkel seines Büros damit beauftragt war, die Kosten zu senken; doch genau das lässt einen Kriege verlieren und lässt Imperien untergehen. Ein Volk, dessen Soldaten in lumpige Uniformen aus dem Ausverkauf gekleidet sind, ist ein Volk, das kein Selbstwertgefühl mehr besitzt und seinen Nachbarn keine Ehrfurcht mehr abverlangt. Es ist schon besiegt.
    5
    Eduards Freundin Fabienne Issartel, die Königin der Nacht von Paris, sagte zu ihm: »Einem grimmigen jungen Mann, der das Gegenteil von allen anderen denkt, habe ich jemanden vorzustellen.« In der Brasserie Lipp organisierte sie ein Mittagessen mit Jean-Edern Hallier, der gerade die Zeitung L’Idiot international neu lancierte.
    Zwanzig Jahre zuvor hatte es einen ersten Idiot gegeben, zu dessen Mitgründern Sartre zählte. Es war eine Streitschrift der Achtundsechziger gewesen, deren Redakteure ihren Chef, den funkelnden Sohn einer verrufenen Familie und Unruhestifter aus tiefster Seele, im Verdacht hatten, ein von der Geheimpolizei bezahlter Provokateur zu sein. Zu den Heldentaten Jean-Ederns – von denen Fabienne in der Vermutung erzählte, dass Eduard sie zu schätzen wisse – gehörte eine Reise nach Chile, wo er der Anti-Pinochet-Bewegung Gelder überbringen sollte, die bei der französischen Kaviar-Linken gesammelt worden waren. Doch

Weitere Kostenlose Bücher