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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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blutgetränkten Verband. »Keiner von Lees Söhnen ist im Krieg umgekommen«, versicherte ich.
    »Ich muß zurück«, sagte sie entschlossen. »Ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen.«
    Ich hörte, wie sich wieder ein Wagen näherte, das leise Motorengeräusch, das beim Einbiegen in die Kurve zu einer höheren Tonlage wechselte. »Ihn im Stich lassen?« sagte ich wütend und stieß sie praktisch über die Straße und in den Wagen hinein. »Du bist nicht einer seiner Soldaten, Annie. Du hast dich nicht für diesen Krieg gemeldet.«
    Ein Jeep dröhnte vorbei, genau auf dem Mittelstreifen. Ich ging um den Wagen herum und stieg ein. Ich ließ den Motor an, gab Gas und jagte mit der gleichen Geschwindigkeit um die Kurve wie der Jeep, damit das gepflügte Feld und Rooney auf seiner Bahre aus unserem Blickfeld verschwanden. »Hätte ich dich bloß nicht hierher gebracht!«
    »Es ist nicht deine Schuld«, sagte Annie.
    »Wessen Schuld ist es dann? Ich bringe dich nach Fredericksburg. Fredericksburg, mein Gott, wo es so viele Gefallene gibt, daß man sie in Massengräbern begraben mußte! Ich lese dir ein Buch über Antietam vor! Und dann, damit du heute nacht auch wirklich von Brandy Station träumst, fahre ich mit dir hier heraus, damit du die Schlacht auch mit eigenen Augen siehst. Und da wundere ich mich, wenn die Träume schlimmer werden!«
    Vor uns tauchte eine Reklametafel auf. BESUCHEN SIE DEN MANASSAS NATIONALPARK MIT SEINEM SCHLACHTFELD. Ich drückte das Gaspedal durch. »Warum fahren wir nicht nach Manassas? Und morgen dann fahren wir nach Richmond, damit du die Siebentagesschlacht träumen kannst. Ich wollte dich irgendwohin bringen, wo es kein gottverdammtes Schlachtfeld gibt!«
    Am LKW vor uns flammten die Bremsleuchten auf. Ich trat auf die Bremse. Annie prallte mit den Händen hart gegen das Armaturenbrett.
    »Ich habe versucht, dir zu helfen.«
    »Ich weiß«, sagte Annie. »Ich weiß, daß du mir helfen wolltest.«
    Ich bremste den Wagen bis auf normale Geschwindigkeit ab. »Ich bin über die Nebenstraßen gefahren, weil ich nicht wollte, daß du auf Wilderness stößt. Hast du dir an der Hand weh getan?«
    »Nein«, sagte sie. Sie rieb sich das Handgelenk.
    »Wir gehen zu einem Arzt. In Luray. Er soll sich deine Hand anschauen, und dann…«
    »Es ist sinnlos, Jeff«, sagte Annie. »Ich kann ihn nicht alleinlassen. Ich muß alles bis zum Ende durchträumen.«
    Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. »Bis zum Ende? Welches Ende? Was ist, wenn Lee hundert Jahre weiterträumt? Was ist, wenn er sich dazu entschließt, den ganzen verdammten Bürgerkrieg zu träumen?« sagte ich bitter. »Willst du das alles für ihn träumen?«
    »Ich muß.«
    »Warum? Es sind nicht deine Träume. Es sind Lees Träume. Er ist derjenige, der all diese Jungen in die Schlacht geschickt hat. Überlaß das Träumen ihm. Laß seine Tochter Annie für ihn träumen, wenn sie will, er ist schließlich ihr Vater. Aber du nicht.«
    »Ich muß.«
    »Warum?«
    »Weil ich es nicht ertragen kann«, sagte sie und begann zu weinen. »Der arme Mann, der arme Mann, ich muß ihm helfen. Ich halte es nicht aus, ihn so leiden zu sehen.«
    Ich nahm ihre Hand in meine und rieb behutsam das Handgelenk. »Und ich kann nicht mit ansehen, was dir angetan wird«, sagte ich. Ich hob ihre Hand an meine Brust und ließ sie dort. »Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle verwundet worden«, sagte ich. Lee sagte das, als man ihm mitteilte, daß Stonewall Jackson bei Chancellorsville verwundet worden war.
    Sie sah zu mir auf, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es waren ihre Tränen, nicht Lees, nicht die seiner Tochter. Und diesmal war ich es, den sie ansah.
    »Ich würde das tun, das weißt du«, sagte ich. »Wenn es irgendwie möglich wäre, würde ich die Träume für dich träumen.«
    Ich lauschte dem Klang meiner Worte hinterher und betrachtete ihr liebes, tränenüberströmtes Gesicht. »Was genau das ist, was du zu tun versuchst, nicht wahr? Die Träume für Lee zu träumen, damit er nicht leiden muß.«
    »Ja«, sagte sie.
    »In Ordnung«, sagte ich. Ich ließ ihre Hand los und wendete den Wagen. »Wir werden in Fredericksburg eine Stelle finden, wo es Brathähnchen gibt. Und hoffen wir bei Gott, daß du nicht von Brandy Station träumst.«
    Es kam anders. Sie träumte von Brathähnchen. Und Annie Lees Grab.

 
12
     
Bei der Schlacht von Wilderness schrie Lee der texanischen Brigade zu, sie solle eine Gefechtslinie bilden,

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