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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Zwölftausendsiebenhundertundsiebzig? Lees Träumen war kein ›Selbstheilungsmechanismus‹. Es war ein Beerdigungsunternehmen, und wie viele Träume würden nötig sein, um all die Jungen zu begraben, die von Pickett’s Charge heruntergestolpert waren, um vor Lees Füßen zusammenzubrechen, wie viele Träume, um all die Jungen in den verlassenen Winkeln und abgelegenen Straßen von Lees Psyche zu beerdigen? Zweihundertachtundfünfzigtausend? Hundert Jahre?
    »Du hast zu mir gesagt, Lee wäre ein guter Mensch gewesen«, sagte Annie, »und das war er auch, Jeff, aber er mußte alle diese Jungen in die Schlacht zurückschicken, und sie trugen keine Schuhe und hatten keine Munition. Er wußte, daß sie getötet werden würden, aber er mußte sie trotzdem schicken. Er mußte seinen eigenen Sohn Rob zurückschicken. Wie konnte er das aushalten, daß all diese Jungen umkamen und niemand wußte, was mit ihnen passiert war? Ich glaube, sie verfolgen ihn immer noch, nach all den Jahren, selbst wenn er schon tot ist.«
    »Und er verfolgt dich.«
    »Nein. Das stimmt nicht. Ich glaube, er versucht zu sühnen.«
    »Indem er dich mit Alpträumen belästigt?«
    »Er belästigt mich nicht damit. Es ist etwas anderes. Irgendwie helfe ich ihm dabei zu schlafen. Obwohl er tot ist.«
    »Und was tun dir die Träume in der Zwischenzeit an?«
    Sie antwortete nicht.
    »Ich werde dir sagen, was sie dir antun. Die Träume werden schlimmer, und sie werden so lange schlimmer werden, bis wir etwas dagegen tun.« Sie wollte widersprechen. »Sieh mal, vielleicht hast du recht. Lee träumt in seinem Grab, und du verschaffst ihm etwas Schlaf, indem du die Träume träumst. In diesem Fall ist es gleichgültig, wohin wir gehen, die Träume werden uns begleiten. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ist es das Schlachtfeld, das die Träume verschlimmert, und wenn wir uns davonmachen, lassen die Träume nach. Tatsache ist doch, du kommst überhaupt nicht zum Schlafen, du ißt nichts, und was hat Lee davon, wenn du eines Nachts kopfüber die Treppe hinunterfällst?«
    Ich ließ den Wagen an. »Ich finde, wir sollten nach Shenandoah fahren, uns etwas erholen, Brathähnchen essen, die Träume für eine Weile vergessen, und wenn wir sie nicht loswerden können, versuchen wir sie zu ignorieren. Du bist kein Deserteur. Du gehst einfach nur für eine Weile weg. In Urlaub.« Ich log. Wenn ich es schaffte, sie von hier wegzubringen, würde ich sie nie wieder zurückgehen lassen.
    »Einfach weg«, sagte Annie, und ich fragte mich, ob sie wußte, daß ich log, ob sie ebenfalls wegkommen wollte.
    »Wir werden nicht über die Träume sprechen, wir werden nicht an die Träume denken, wir werden wandern und Brathähnchen essen und uns das Blue-Ridge-Gebirge ansehen. In Ordnung?«
    Sie seufzte; ein langes, resigniertes Seufzen. »In Ordnung«, sagte sie.
    Ich kam wieder auf Schotter, auf Asphalt und endlich auf die Straße, über die wir hergekommen waren. Nach etwa einer Meile verwandelte sie sich in eine Landstraße und nach ein paar weiteren Meilen in einen zweispurigen Highway mit einer weithin ausgestreckten Fahrbahn.
    Man hätte meinen können, es wäre schon Sommer. Einige Bäume waren bereits vollständig belaubt, und es war unglaublich warm. Der Himmel war vollkommen wolkenlos, selbst über dem blauen Streifen in der Ferne, wo wir bereits das Blue-Ridge-Gebirge sehen konnten. Ich fuhr schneller, denn ich wollte eine so große Entfernung wie nur möglich zwischen uns und Fredericksburg bringen. Die Zeit fürs Mittagessen war bereits vorbei, aber wir würden später essen, wenn wir näher an Shenandoah waren.
    »Das gefällt mir schon besser«, sagte ich und legte meinen Arm ins offene Fenster. »Einen Moment lang dachte ich, wir würden nie wieder einen Highway zu Gesicht bekommen.« Ich hatte zu Annie gesagt, wir würden nicht über die Träume sprechen, aber das war leichter gesagt als getan. Wir hatten tagelang an nichts anderes als an die Träume gedacht. Ich konnte nicht über das Schlachtfeld reden oder über Lee, auch nicht über Lincoln, der ebenfalls mit den Alpträumen zu tun hatte. Und ich konnte sie wohl kaum mit munteren Geschichten aus alten Collegezeiten über meinen Stubenkameraden Richard unterhalten.
    »Das ist eine wunderbare Gegend, findest du nicht?« sagte ich, wobei ich mehr denn je wie der Ranger vom Nationalpark klang. »Als ich gerade anfing, für Broun zu arbeiten, verfuhren wir uns einmal auf einer abgelegenen Straße. Er wollte,

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