Linda Lael Miller
einem Stapel leerer Saatgutsäcke in einer Ecke des Gemischtwarenladen in
Onion Creek geschlafen hatte, weil sie keinen besseren Platz gefunden hatte,
schlug ihre blauen Augen auf und sah einen bärtigen, ungeheuer großen Mann, der
grinsend vor ihr stand. Ünwillkürlich stieß sie einen spitzen kleinen
Alarmschrei aus.
»Sind Sie
Miss Elizabeth Ann Campbell?« fragte der Riese. Er war ganz offenbar einer
dieser Grenzlandbewohner, denn er trug ein grobgesponnenes Hemd, wollene Hosen
und breite Hosenträger.
Bess, die
voll angekleidet war und die ganze Nacht lang ihren Koffer und ihre Handtasche
an die Brust gedrückt hatte, richtete sich abrupt auf ihrem improvisierten Bett
auf. »Vielleicht bin ich das«, antwortete sie und strich ihr wirres blondes
Haar glatt. »Aber wer sind Sie?« Er war jedenfalls nicht John Tate, der
Mann, dessentwegen sie diese weite Reise unternommen hatte, um seine Frau zu
werden.
Es war noch
immer dunkel draußen, und nur eine einzelne Laterne, die auf einem Faß mit
eingelegten Gurken stand, erhellte den kleinen Laden. Mr. Sickles, der Besitzer,
stand stirnrunzelnd in der Nähe, sichtlich verärgert, daß er zu dieser frühen
Stunde aus dem Bett geholt worden war.
Der bärtige
Riese lachte und betrachtete Bess mit hellbraunen Augen, die vor Humor und
Mutwillen zu funkeln schienen. »Nun ja, Ma'am«, antwortete er und entblößte
dabei erstaunlich weiße Zähne, »ich muß zwar zugeben, daß ich nicht der Mann bin,
den Sie erwartet haben, aber unter den gegebenen Ümständen, fürchte ich, werden
Sie sich mit mir aLs Bräutigam zufriedengeben müssen.«
Bess
versteifte sich und spürte, wie ein Frösteln über ihren Rücken lief. Sie hatte
nicht damit gerechnet, daß ihre Flucht nach Westen so gefahrvoll und unbequem
sein würde, wie sie es gewesen war, und sie war nicht nur erschöpft, sondern
auch zutiefst enttäuscht. Und nun hockte diese verwilderte Gestalt neben ihrem
Bett und besaß die Frechheit, sich ihr als Bräutigam anzubieten!
»Ich bitte
um Verzeihung«, sagte sie spitz, als sie nach ihrem Beutel griff und beinahe
den Stoff zerriß, als die Bänder sich verhedderten. »Ich bin mit einem gewissen
John Tate verlobt«, fuhr sie fort, während sie in der Tasche nach dem
zerknitterten, oft gelesenen und oft bereuten Ehevertrag suchte, der sie an
diesen gottverlassenen Ort gebracht hatte. Endlich fand sie das Dokument und
zeigte es dem Fremden. »Hier – überzeugen Sie sich selbst.«
Der Mann betrachtete
ihre Hände, und sein Gesichtsausdruck wechselte von neugierig zu nachdenklich.
»Schlafen Sie immer mit Handschuhen?« fragte er.
Bess
errötete und spürte jähen Zorn in sich erwachen. »Zerbrechen Sie sich darüber
nicht den Kopf, Sir. Es ist ganz gewiß nicht Ihr Problem, was ich trage, wenn
ich schlafe!«
Die
whiskeybraunen Augen lachten sie an, und er ignorierte den Ehevertrag, den
Bess mit zitternder Hand hochhielt, bis sie ihn schließlich wieder sinken
ließ. »Ich denke doch, daß es mein Problem ist, Ma'am, weil ich Ihr Ehemann
sein werde.«
Bess hatte
inzwischen genügend Mut gesammelt, um sich, wenn auch etwas unsicher,
aufzurichten, ihre Röcke auszuklopfen und ihr knappes Samtjäckchen glattzuziehen.
»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, daß ich mit Mr. John Tate verlobt bin«,
erklärte sie kühl. »Sind Sie taub, Sir?«
Auch er
richtete sich auf und reichte ihr eine sehr große, aber – soweit sie im
schwachen Schein der Laterne sehen konnte – saubere Hand. »Nein, Ma'am,
ich weiß, daß Sie meinen Bruder heiraten sollten«, erwiderte er geduldig. »Das
Problem ist nur, daß John nach Norden gegangen ist, um nach Gold zu suchen, und
es mir überlassen bleibt, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Ünd eine dieser
Verpflichtungen ist, Sie zu heiraten.«
Bess schenkte
seiner Hand genausowenig Beachtung wie er zuvor dem Ehevertrag, den sie ihm
gezeigt hatte. Wieder zupfte sie an ihrer Jacke, obwohl sie wußte, daß an deren
Sitz nichts mehr zu verändern war, und hob stolz das Kinn. Trotz der tapferen
Fassade jedoch, die sie zur Schau stellte, hätte sie sich am liebsten unter den
groben Säcken auf dem Boden verkrochen und geweint, bis die Engel im Himmel aus
lauter Mitleid mit ihr weinten.
»Nun ja,
dann erlauben Sie mir – Mr. Tate, vermute ich? –, Sie wenigstens von einer
dieser Verpflichtungen zu entbinden. Ich würde nicht einmal im Traum daran denken,
mich mit einem Fremden zu verheiraten.«
Im ersten
Moment wirkte Mr. Tate enttäuscht,
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