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Linda Lael Miller

Linda Lael Miller

Titel: Linda Lael Miller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denn dein Herz kennt den Weg
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und nickte zustimmend, aber sie war sicher, daß sie
erheblich tapferer wirkte, als sie sich tatsächlich fühlte.

5. Kapitel
    Wie sich
dann herausstellte,
brauchten Will und Bess gar nicht zu den Jessines zu fahren, denn zwei Tage
nach der Hochzeit kamen die Nachbarn zu ihnen. Auf einem uralten, überdachten
Wagen, der von zwei Mauleseln und einem Ochsen gezogen wurde, hatten sie ihre
spärliche Habe mitgebracht.
    Als die
Besucher eintrafen, war Bess gerade dabei, ihre Truhen auszupacken und die
praktischeren ihrer Kleider auf dem sonnenbeschienenen Gras zum Lüften auszubreiten.
Will war auf der anderen Seite des Felds beim Säen, hörte aber sofort damit
auf, als er den Wagen kommen sah.
    Die
Jessines waren offenbar noch ärmer, als Mr. Kipps beim Frühstück angedeutet
hatte – ihre Kleider waren zerlumpt, und obwohl beide um die Zwanzig waren wie
Will und Bess, wirkten sie mindestens doppelt so alt wie sie.
    Mr. Jessine
war ein hagerer, bekümmert aussehender Mann, der sich an die letzten Reste
seines Stolzes klammerte. Mae war hochschwanger und bemitleidenswert dünn,
trotz ihres umfangreichen Bauchs. Ihre Haut war fahl, und ihrem braunen Haar
mangelte es an Kraft und Glanz, obwohl es offensichtlich sauber war.
    Sie
lächelte Bess traurig an, als Tom sie von dem hohen Bock des Wagens hob, schien
jedoch zu schüchtern, um etwas zu sagen. Will nickte Mrs. Jessine zu und
schüttelte ihrem Mann die Hand. »Hallo, Tom.«
    Jessine
klang, als werde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, als er erwiderte:
»Wir geben unsere Farm auf, Will, und gehen nach Spokane. Ich kann nur hoffen,
daß ich dort bei der Eisenbahngesellschaft Arbeit finde.«
    Bess, die
in ihrem ganzen Leben nie echte Not gekannt hatte, schämte sich plötzlich ihrer
feinen Kleider, ihrer makellosen Haut, glänzenden Haare und ihrer vornehmen
Erziehung. Sie verdrängte das Gefühl jedoch rasch und ging auf Mae zu, um die
andere Frau zu begrüßen, ihr etwas zu essen zu geben und zu versichern, daß
alles in Ordnung kommen würde.
    »Das ist
meine Frau, Bess«, sagte Will, als sie an seine Seite trat. »Bess, das sind Tom
und Mae Jessine.«
    »Möchten
Sie nicht hereinkommen?« sagte Bess zu Mae und überließ es Will, sich um seinen
Freund zu kümmern. »Ich brühe uns eine Kanne Tee auf, und dazu können wir den
Apfelkuchen essen, den ich heute früh gebacken habe.«
    Maes
schmales Gesicht hellte sich auf, aber sie war so erschöpft, daß jeder Schritt
eine ungeheure Anstrengung für sie darstellte. Sie stolperte, und rasch legte
Bess einen Arm um ihre Taille.
    »Tom und
ich möchten nicht stören«, sagte Mae schüchtern, als Bess sie auf eine der
Obstkisten gesetzt hatte, die ihnen als Stühle dienten. »Wir dachten nur, wir
fahren vorbei und sagen Will Bescheid, daß wir fortgehen, damit er sich keine
Sorgen macht. Vielleicht könnten Sie auch Mr. Kipps sagen, daß wir nach Spokane
gefahren sind, wenn er wieder einmal hier vorbeischaut?«
    »Gern«,
antwortete Bess und beschäftigte sich am Herd, damit Mae nicht sah, wie sehr
sie sie bedauerte. Sehnsüchtig dachte sie an den bequemen Schaukelstuhl, der
ungenutzt auf dem oberen Korridor ihres Elternhauses in Philadelphia stand. Er
war weich gepolstert, dieser Sessel, und wäre Mae in ihrem gegenwärtigen
Zustand ein großer Trost gewesen.
    Vielleicht, dachte Bess, wäre
Mutter bereit, ihn bis Onion Creek zu schicken, wenn ich ihr schreibe und sie
darum bitte ...
    »Sind Sie
eine Annoncen-Braut?« fragte Mae ganz unverblümt.
    Bess hielt
inne, errötete und nickte, noch immer mit dem Rücken zu der Schwangeren. Vorher
hatte sie versucht, ihr Mitleid zu verbergen, doch jetzt hatte sie einen
erheblich egoistischeren Grund, die andere Frau nicht anzusehen.
    »Ja, ich glaube,
das könnte man wohl sagen«, antwortete sie nach kurzem Schweigen.
    »Sie hätten
es nicht besser treffen können als mit Will«, fuhr Mae fort, die offensichtlich
keine Schande darin sah, per Annonce einen Ehemann zu finden. »Mit seinem Bruder,
John, wäre es allerdings etwas ganz anderes gewesen. Er hat ein Lächeln wie ein
Engel – John, meine ich –, aber die meiste Zeit nichts anderes im Kopf als
Ünfug.«
    Bess hatte
sich endlich soweit beherrscht, daß sie sich umdrehen und Mae ansehen konnte.
»Der Tee ist fast fertig«, sagte sie, was selbst in ihren eigenen Ohren
ziemlich töricht klang.
    Statt einer
Antwort riß Mae die Augen auf und keuchte, und Bess beobachtete voller
Entsetzen, wie der Bauch der Frau sich

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