Linda Lael Miller
»Ich
habe Gabriel gebeten, in die Scheidung einzuwilligen«, antwortete sie. »Er ist
jedoch fest entschlossen – was mich wahrscheinlich gar nicht überraschen
dürfte –, es mir so schwer wie möglich zu machen.«
Jessie
blinzelte; eine so direkte Antwort hatte sie anscheinend nicht erwartet. »O
Gott«, murmelte sie.
Warum waren
alle so verblüfft über ihren Wunsch, sich aus einer sinnlos gewordenen Ehe zu
befreien? Annabel begriff es einfach nicht. Es wäre vernünftiger gewesen, wenn
sie und Gabriel diesen Schritt schon vor langer Zeit getan hätten, um beide von
dem Unglück zu erlösen, so, wie man ein verletztes Pferd erlöste oder einen
tollwütigen Hund.
Bevor sie
ihre Meinung jedoch äußern konnte, schaute Jessie an ihr vorbei und rief: »O
nein!«
Als Annabel
sich umwandte, sah sie Gabriel durch die Menge schreiten, groß und unendlich
attraktiv in seinen dunklen Hosen, den hohen Stiefeln, dem blütenweißen Hemd
und der glänzenden schwarzen Seidenweste. Fast hätte sie gelächelt, trotz des
Klumpens, der sich in ihrer Kehle formte, als sie sah, daß er auf Rock und
Kragen verzichtet hatte, was ausgesprochen typisch für ihn war. Und sein
Gesichtsausdruck war so düster und grimmig, als forderte er im stillen jeden
Anwesenden heraus, etwas zu seiner eleganten Kleidung zu bemerken.
Annabel war
plötzlich, als bliebe die Zeit stehen, während sie ihn langsam auf sich und
Jessie zukommen sah. Er wirkte wie ein Erzengel, der als Rancher verkleidet
auf die Erde herabgeschickt worden war. Aber Annabel bezweifelte, daß er,
abgesehen vom täglichen Waschen und Rasieren, seinem Äußeren je Beachtung
schenkte. Wahrscheinlich war ihm nicht einmal bewußt, wie attraktiv, wie
klassisch schön er war.
Nein,
Gabriels Selbstbewußtsein beruhte nicht auf etwas so Oberflächlichem wie gutem
Aussehen; sein Selbstvertrauen bezog er aus sich selbst. Er war ein Mann, der
schon oft harte Prüfungen durchgemacht, ein Mann, der gelernt hatte, seinem
eigenen Verstand und seinem Körper und seiner Seele zu vertrauen.
Die Menge
öffnete sich ganz wie von selbst und schuf Raum, als er an den Leuten
vorbeiging und hier und da einen knappen Gruß murmelte. Was immer Gabriel
hergeführt hatte, es hatte ganz gewiß nichts mit dem Picknick zur Feier des
Unabhängigkeitstags zu tun.
Nach einer
kleinen Ewigkeit, wie Annabel erschien, blieb er vor Jessies Decke stehen.
Beide Frauen schauten auf, Jessie beschattete die Augen mit einer Hand, und
Annabel kniff die Augen zu. Die gleißende Julisonne tauchte ihn in rotes Gold
und ließ seine Züge verschwimmen.
»Setz dich
zu uns«, forderte Jessie ihren Bruder auf.
Widerstrebend
ging Gabriel in die Hocke, und seine Züge waren wieder zu erkennen. Sein Blick,
mißtrauisch und düster, ruhte auf Annabel.
Sie konnte
der Versuchung, ihn ein bißchen zu ärgern, nicht widerstehen, obwohl sein
Anblick ihr den Atem raubte und ihr Herz so heftig schlagen ließ, daß sie das
Pochen im ganzen Körper spürte. Vielleicht war es das, wofür sie Gabriel
bestrafen wollte – für die scheinbar unbewußte Macht, die er noch immer auf sie
ausübte; sie wußte selbst nicht, was es war. »Ich hätte geschworen, daß du dir
nicht die Zeit nehmen würdest,
an der Feier zum vierten Juli teilzunehmen«, sagte sie.
Er funkelte
sie wütend an, ohne auch nur einen Blick oder einen Gruß für seine Schwester.
»Was willst du hier, Annabel?« fragte er rauh.
»Das habe
ich dir doch schon gesagt«, erwiderte sie spitz. »Ich bin gekommen, um die
Scheidung zu verlangen.«
»Das meinte
ich nicht«, entgegnete Gabriel scharf. »Was fällt dir ein, an diesem Picknick
teilzunehmen und dich vor allen unmöglich zu machen?«
Annabels
rechte Hand glitt zu ihrer Brust, und sie spürte, wie ihre Schläfen zu pochen
begannen. Gabriel McKeige mochte schön genug sein, um einen Platz auf dem Olymp
zu verdienen, aber er war auch der anmaßendste und größenwahnsinnigste Mann,
dem sie je begegnet war.
»Mich
unmöglich zu machen?« wiederholte sie mit leiser, beherrschter Stimme und
fragte sich, ob Gabriel sich noch daran erinnern mochte, wie gefährlich es
wurde, wenn sie diesen Tonfall anschlug. »Ich sitze nur hier auf der Decke und
unterhalte mich mit deiner Schwester. Kannst du mir sagen, wieso ich mich damit
unmöglich mache?«
»Gabriel«,
sagte Jessie in dem Versuch, die Wogen zu glätten und die Kontrahenten zu
beschwichtigen.
»Du weißt
verdammt gut«, antwortete Gabriel, ohne Jessie auch nur die
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