Linda Lael Miller
angezogen wie für eine Einladung zum Tee.
Als sie Annabels Haus betrat, das noch immer dringend einer Säuberung bedurfte,
drückte sie ein parfümiertes Taschentuch an ihre Nase, aber ihr Lächeln war
freundlich, wenn auch ein wenig wehmütig.
»Ich gebe
zu, daß ich gehofft hatte, es würde Gabriel gelingen, dich umzustimmen«, sagte
sie, als sie ihre Handschuhe abstreifte und sich in dem leeren Wohnraum umsah.
Im Gegensatz zu Jessies gepflegter Residenz und Gabriels großzügigem Wohnhaus
auf der Ranch war Annabels neues Heim so Mein, daß es nicht einmal eine Diele
hatte. Es gab nur zwei große Räume unten, ein Wohnzimmer und eine Küche, und
zwei etwas weniger geräumige Schlafzimmer im ersten Stock. »Aber wie ich sehe,
habe ich mich geirrt.«
Annabel freute
sich, ihre Schwägerin zu sehen. Dennoch antwortete sie so, wie es zu erwarten
war. »Ich wußte gar nicht, daß die McKeiges sich irren können«, sagte sie.
Jessie war
nicht beleidigt, da es auch nicht so gemeint gewesen war, und lachte leise.
»Vielleicht war ich zu voreilig«, konterte sie. »Wahrscheinlich weiß Gabriel
nicht einmal, daß du hier bist. Wir werden sehen, was geschieht, wenn er es
herausfindet.«
Annabel
verdrehte die Augen. »Komm herein«, bat sie, »und setz dich. Du kannst wählen –
entweder eine Apfelkiste oder eine Orangenkiste. Während du es dir bequem
machst, brühe ich uns Tee auf.«
Jessie
wanderte durch das Wohnzimmer, als Annabel zur Küche ging.
Als sie
zurückkehrte, stand ihre Schwägerin am Fenster. Sie wirkte wie eine nordische
Gottheit, wie sie dort stand, in helles Sonnenlicht getaucht. Als sie Annabel
hörte, wandte sie sich lächelnd um, aber ihrem Gesicht war deutlich anzusehen,
daß sie beunruhigt war.
»Ich finde
es verrückt von dir, dieses Haus zu kaufen, wenn du die Möglichkeit hast, auf
der Ranch zu leben«, sagte sie, »aber wahrscheinlich ist es immerhin noch
besser, als gleich nach England abzudampfen. Du mußt dich jetzt um Nicholas
kümmern.«
Annabel
schaute sich vergeblich nach einem Platz um, wo sie die beiden häßlichen Becher
abstellen konnte, die sie aus der Küche hereingetragen hatte. Es gab kein
feines Porzellan in diesem Haus, und es gab auch keines im Warenhaus zu kaufen.
Keine hübschen Teekannen, keine schimmernden Silbertabletts und keine
spitzenbesetzten Damastservietten.
In
Warwickshire servierte Annabel den Tee im großen Stil. Hier war nichts
dergleichen möglich.
»Ja«,
stimmte sie nach kurzem Schweigen zu, froh, daß Jessie einfach die Hand
ausstreckte und einen der Becher nahm. Sie seufzte wehmütig. »Ich wünschte, ich
könnte Nicholas überreden, mit mir nach England zurückzukehren, und wenn auch
nur für ein, zwei Jahre. Das würde so viele Probleme lösen.«
Jessie zog
eine feingezeichnete Augenbraue hoch. »Würde es das? Es ist ohnehin recht
unwahrscheinlich, daß Gabriel in die Scheidung einwilligt, aber wenn du ihn
nicht permanent bedrängst und aus direkter Nähe, wird es dir überhaupt nicht
gelingen, seine Zustimmung zu erlangen.«
»Nicholas
ist wichtiger«, entgegnete Annabel mit einem kleinen Seufzer. Nachdenklich
nippte sie an ihrem Tee. »Wenn er sich doch nur jemandem anvertrauen könnte.
Ich weiß, daß Nicholas sich mir nicht besonders nahe fühlt. Aber warum redet er
nicht mit dir, Jessie, oder mit seinem Vater?« Eine tiefe Niedergeschlagenheit
erfaßte sie. »Gott im Himmel, habe ich meinen Sohn wirklich so schlimm
verletzt, daß er niemandem mehr vertrauen kann?«
»Nicholas
hat immer nur seinem eigenen Rat vertraut. Ich weiß nicht, ob es anders wäre,
wenn du dein ganzes Leben hier auf dieser Ranch bei ihm gewesen wärst.«
Annabel
dachte eine Weile über Jessies Worte nach. »Er war ein kleiner Junge, als ich
ihn mit nach Boston nahm. Ich war seine Mutter und damit für ihn
verantwortlich. Ich hätte Nicholas nicht gestatten sollen, nach Parable
zurückzukehren.« Ihre Augen brannten bei der Erinnerung an jenen fernen Tag, an dem sie
ihren kleinen Sohn in einen Zug gesetzt hatte, der nach Westen fuhr, in
Begleitung einer Frau, die zu ihrem Ehemann nach Fort Duffield reiste.
»Quäl dich
nicht, Annabel«, riet Jessie. »Nicholas wäre fortgelaufen, wie er dir gedroht
hatte, und der Himmel weiß, was dann aus ihm geworden wäre.« Mit scharfen,
prüfenden Blicken schaute sie sich im Zimmer um. »Ich glaube, ich habe noch ein
paar Sachen auf meinem Dachboden, die dieses Haus etwas wohnlicher gestalten
würden. Ich werde mir einen von
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