Linda Lael Miller
fragte sich, ob ihr Pferd schon hiersein mochte oder
noch in Hadleigh Castle war. Zum guten Schluß dachte sie, daß das nicht wichtig
war, denn wenn sie versucht hätte, Dane in die Schlacht zu folgen, hätte es ja
doch nur mit einer Demütigung oder noch Schlimmerem für sie geendet.
Die alten
Grabsteine auf dem Friedhof zogen sie wie magisch an, was vielleicht auf ihre
eigene düstere Stimmung zurückzuführen war. Wenn ich Herrin auf Kenbrook Hall
sein will, muß ich jeden Winkel kennen, dachte sie und nahm sich vor, Dane nach
seiner Mutter zu fragen und all den anderen, die mit ihr auf diesem Friedhof
ruhten.
Elainas
Warnung erschien ihr irreal im hellen Licht des Tages – nichts als das Gerede
einer unglückseligen, mit reger Phantasie begabten Frau, die zuviel Zeit allein
verbrachte und eingebildeten Stimmen lauschte.
Gloriana
blieb stehen und betrachtete die Krypta, in der die sterblichen Überreste von
Danes Mutter ruhten. Es wäre ein Trost gewesen, gewiß zu sein, daß Lady Aurelia
bei den Engeln im Himmel war und über Kenbrook wachte und ihn beschützen
konnte, doch Gloriana wagte nicht, daran zu glauben.
Eine steife
Brise wehte vom nahen See herüber. Als Gloriana sich fröstelnd umdrehte, um
zur Burg zurückzukehren – sah sie Judith in ihre Richtung eilen. Doch
plötzlich durchzuckte ein jäher, blendender Schmerz ihren Kopf. Sie streckte
die Hand aus, um sich irgendwo festzuhalten, doch da zog
ihr Magen sich zusammen, und unfähig, sich noch länger auf den Beinen zu
halten, sank sie in die Knie.
Gloriana
sah plötzlich nichts mehr außer einer allumfassenden Finsternis; ihr war, als
würde sie herumgewirbelt wie ein Blatt im Wind. Ein dröhnendes Geheul erfüllte
ihre Ohren, schmerzgepeinigt preßte sie die Hände darauf, krümmte sich vor
Qualen und stieß einen gellenden Schrei aus.
»Dane!«
Der
Alptraum nahm kein Ende, und Gloriana hätte nicht sagen können, wieviel Zeit
verstrichen war, als ihre Sicht endlich zurückkehrte und der schreckliche Lärm
zu einem Summen verblaßte.
Gloriana
hob den Kopf, so benommen, daß sie sich einen entsetzlichen Moment lang weder
an ihren Namen entsinnen konnte noch daran, was sie auf diesem verregneten
Friedhof zu suchen hatte.
Erst nach
und nach wurden ihr die Stimmen um sie herum bewußt, die sich in einer fremden
Sprache unterhielten. Sie blinzelte, als ihr Bewußtsein einsetzte, blitzartig
wie der Kopfschmerz, der sich inzwischen zu einem hohlen Pochen abgeschwächt
hatte.
Leute
umringten sie und starrten sie an. Es regnete, und das mochte der Grund sein,
warum sie kleine bunte Baldachine über ihre Köpfe hielten.
Schirme, wisperte die Stimme
der Erinnerung im Hintergrund ihres Bewußtseins.
Die Leute
redeten und gestikulierten, und Gloriana wich unwillkürlich einen Schritt
zurück und schüttelte den Kopf.
»Armes
Ding«, sagte jemand. »Sie hat Angst.«
»Sieh dir
diese komischen Klamotten an«, meinte jemand anderes.
Jener Teil
ihres Bewußtsein, der die Schirme erkannt hatte, übersetzte auch die merkwürdig
abgehackten Worte der
Leute, allerdings mit quälender Langsamkeit. Das schlimmste von allem jedoch
war die Erkenntnis, daß nun eingetreten war, was Gloriana befürchtet hatte. Sie war vom
dreizehnten Jahrhundert in eine viel spätere Zeit versetzt worden. Hier, in diesem Zeitalter und an
diesem Ort, waren Dane und all die anderen Menschen, die sie geliebt hatte,
seit langem tot und nicht mehr als Staub und Knochen in ihren Gräbern.
In ihrer
Verzweiflung stieß Gloriana einen schrillen Schrei aus, worauf ein Mann sich
aus der Menge löste, eine Hand ausstreckte und sie freundlich ansprach.
»Beruhigen
Sie sich«, sagte er, und Gloriana hatte Mühe, seine Worte zu übersetzen. »Sie
brauchen keine Angst zu haben. Ich bin Arzt und werde Ihnen helfen.«
Gloriana
schloß die Augen und versuchte, sich mit purer Willenskraft zu Dane und nach
Kenbrook Hall zurückzuversetzen.
»Aber, aber
– so schlimm wird es doch nicht sein, nicht wahr?« sagte der Doktor beruhigend
und legte ein schweres wollenes Kleidungsstück um ihre Schultern – einen
Männerrock, der angenehm nach Regen und irgendeinem würzigen Parfüm roch.
»Kommen Sie, begleiten Sie mich, ich werde mich um Sie kümmern.« Während er
Gloriana mit einer Hand stützte, drängte er sich mit ihr durch die kleine
Gruppe Neugieriger, die sie umringten. »Was ist los mit euch?« fuhr er die
Leute an. »Habt ihr noch nie einen kranken Menschen gesehen?«
Gloriana
war wie
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