Lindenallee
durch den Kopf. Ich frage mich was ich fühlen würde, wenn ich dort wäre und an die Menschen denke, die es nicht mehr gibt.“
„Ach, entschuldige Magarete, das war vielleicht eine dumme Idee von mir“, bedauerte Paula aufrichtig ihren Vorschlag.
Magarete schüttelte bestimmt den Kopf. „Nicht doch, das ist nicht dumm. Viel schlimmer wäre es die Menschen zu vergessen. In meiner Erinnerung leben sie weiter und in deiner haben sie auch Platz gefunden. Es ist ein tröstlicher Gedanke, wenn die Erinnerungen an Ereignisse und Menschen wach gehalten werden, die wichtig waren und vergangen sind.“
„Bedeutet das, du kommst mit nach Lucklum?“
Magarete nickte stumm.
Paula lag noch eine Frage auf dem Herzen, die sie unbedingt loswerden musste. „Wusste Hannes von Friedrich? Die Frage beschäftigt mich schon einige Zeit.“
„Ja, er wusste von Friedrich. Am Anfang, als ich Hannes in Berlin kennenlernte, haben wir uns so gut wie alles aus unserem vorherigen Leben erzählt. Er wusste, dass ich meine große Liebe verloren hatte. Umso mehr bewunderte ich ihn, wie es ihm scheinbar nichts ausmachte. Vielleicht hat er die Furcht vor der Rückkehr von Friedrich auch nur gut zu verstecken gewusst“, sinnierte Magarete betrübt.
„Vielleicht“, meinte Paula. „Aber so, wie du von Hannes erzählt hast, liebte der Mann dich sehr. Er hätte dich bestimmt nicht so leicht hergegeben.“ Paula zögerte einen Augenblick. „Darf ich dich noch etwas fragen?“
„Natürlich.“
„Warum hast du nie deinen Mädchennamen abgelegt? Du hast nicht den Nachnamen von Hannes angenommen“, schlussfolgerte Paula.
„Ja, das stimmt.“ Magarete stockte, sie sah auf ihre Hände hinab, dann blickte sie Paula an. „Ich musste es Hannes zu Lebzeiten versprechen, nie ein Wort darüber zu verlieren. Meine Eltern akzeptierten es, dass Hannes stets ein Geheimnis um seinen Familiennamen machte. Er erzählte es mir nach einigen Wochen, als wir in Berlin abends in einem Restaurant saßen.“
Magarete holte tief Luft, das Geheimnis hatte sie seit etlichen Jahrzehnten mit sich herumgetragen. „Es war ihm sehr unangenehm, er schämte sich richtig. Ich glaube, er hat mir damals auch nur die halbe Wahrheit erzählt, in Wirklichkeit muss es noch viel schlimmer gewesen sein.“
Magarete fuhr nach einer kleinen Pause fort. „Sein Vater war damals ein hohes Tier bei den Nazis gewesen. Als der Krieg sich mit einer abzusehenden Niederlage dem Ende zuneigte, flohen seine Eltern mit Hab und Gut ins Ausland. Das war es aber nicht, was ihn dazu brachte, nie wieder ein Wort mit ihnen zu sprechen. Hannes fand heraus, dass sein Vater Nachbarn denunziert hatte, die jüdische Wurzeln hatten. Sein Vater hatte sie eiskalt ausgeliefert. Nachbarn, mit denen sie stets ein gutes Verhältnis hatten, Nachbarn, mit denen sie, bevor der Wahnsinn begann, gemeinsam im Garten gesessen hatten. Hannes hatte mit deren Söhnen als Kind im Garten gespielt. Ist das zu glauben?“
Verstört schüttelte Magarete ihren Kopf. „Hannes hat ihnen nie verziehen. Seine Art sich dagegen aufzulehnen war, seinen Familiennamen für immer abzulegen. Er schämte sich so sehr für seinen Vater. Als er mir das gebeichtet hat, liefen ihm Tränen übers Gesicht.“ Sie seufzte erleichtert. „Es tut mir gut, das von der Seele zu reden.“ Dankbar blickte sie Paula an, die schweigend zugehört hatte.
„Was sind das bloß für Zeiten gewesen“, meinte Paula erschüttert. „Was für ein Leid die Nazis über das Land und die Menschen gebracht haben. Unglaublich. Hannes tat gut daran, seinen Namen abzulegen. Eine Form des Protests, die ein Außenstehender nicht verstand, aber ihm sehr wichtig gewesen sein muss“, begriff Paula.
„Jetzt haben wir aber genug in der Vergangenheit herumgewühlt. Schluss damit.“ Magarete stand unvermittelt auf und nahm den leeren Kuchenteller vom Tisch. „Wenn du einen Ausflug nach Lucklum planst, würde ich mich sehr freuen, wenn du an mich denkst.“
„Gerne. Ich sage Bescheid.“ Ihr fiel etwas ein. „Ach Mist, ich habe kein Auto mehr.“
„Dann frag doch Steffen, ob er uns fahren kann.“ Augenzwinkernd wandte Magarete sich in Richtung Flur ab. Paula folgte ihr.
„Magarete, hast du gerade bemerkt wie dein Auge gezuckt hat? Hast du etwas im Auge? Soll ich mal nachsehen?“
Magarete lachte heiter. „Nein, mit meinem Auge ist alles bestens. Ich wünsche dir einen schönen Sonntagabend.“
„Ich dir auch.“
Paula schloss die Tür hinter ihr.
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