Lindenallee
die im Sommer 1939 über das Dorf hereinbrachen, zwangen mich, meine bis dahin vorbildlich geführte Polizeistelle an den Rand des Abgrundes zu führen. Vielleicht ist das nicht ganz richtig formuliert, denn ich war es alleine, der mit einem Bein im Gefängnis stand!
Um es vorwegzunehmen, mich überraschte wahrlich nicht das unrühmliche Ende von Hein Kummerlich.
Ich stand damals am Anfang meiner Karriere. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und in die Fußstapfen meines Vaters getreten. In unserer Familie war es Tradition, dass der Sohn dem Vater in den Polizeidienst folgte.
Das Leben als Polizist auf dem Dorf war durchaus angenehm. Außer Betrunkenen und gelegentlichen Raufereien auf den Dorffesten gab es keinerlei schwerwiegende Delikte. Der Mord an Hein Kummerlich sollte das einzige Schwerverbrechen in meiner langjährigen Laufbahn bleiben.
Über Hein Kummerlich war mir einiges zu Ohren gekommen. Ein unangenehmer Zeitgenosse, den die meisten Menschen mieden wie die Pest. Im Dorf kursierten allerlei Gerüchte. Am hartnäckigsten hielten sich die Behauptungen, er würde Frauen nachstellen, besonders jungen Frauen. Leider war ihm nie etwas nachzuweisen. Die Betroffenen schwiegen aus Furcht oder Scham, so konnte ich ihn deswegen nie am Kragen packen.
Einen widerlichen Einblick in sein Tun bekam ich eines Tages zufällig, als ich beim Bauern Wiesenscheid nach dem Rechten sehen wollte. Er hatte eine Woche zuvor den Verlust eines Schweines gemeldet und ich wollte ihm einen Besuch abstatten. Manchmal tauchte das Tier von selbst wieder auf. Mir ist es aber auch schon untergekommen, dass stattdessen eine große Anzahl frischer Würste im Schuppen hing.
Die Abkürzung zum Bauern Wiesenscheid führte über einen kleinen Bach, der von einer schmalen Brücke überspannt wurde. Als ich auf die Brücke zuging, entdeckte ich Hein Kummerlich, der sich wie ein Berg zwischen den beiden Handläufen aufgebaut hatte. Ich hörte, wie er mit jemandem sprach. Neugierig schritt ich auf ihn zu. Er konnte mich nicht bemerken, da er mir den Rücken zukehrte.
Ich lugte an ihm vorbei und entdeckte die junge Elisabeth, die gerade mal dreizehn Jahre alt war und Hein Kummerlich furchtsam mit großen Augen anstarrte. In ihren Händen hielt sie einen Korb und nestelte aufgeregt daran herum. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gingen ihr die Schauergeschichten über Hein Kummerlich durch den Kopf, die hinter vorgehaltener Hand im Dorf erzählt wurden.
Ich hatte genug gesehen, es war Zeit einzugreifen.
„ Herr Kummerlich!“, polterte ich laut dröhnend hinter ihm.
Aufgeschreckt fuhr er zu mir herum.
„ Ach, Herr Klagenfurth“, erkannte er mich und gewann seine Selbstsicherheit wieder. Ich weiß nicht woher er sie nahm. Scheinbar konnte ihm niemand Respekt abnötigen.
„ Lassen Sie sofort das Mädchen durch.“ Meine Miene blieb hart.
Er zögerte einen Moment, ehe er widerwillig zur Seite trat und das Mädchen schnell an ihm vorbei zu huschen versuchte. Als sie sich auf seiner Höhe befand, raunte er ihr leise etwas zu. Das Mädchen quiekte erschrocken auf und rannte, als ob der Teufel hinter ihr her sei. Ich sah ihre Füße kaum den Boden berühren.
Drohend baute ich mich vor Hein Kummerlich auf, der dem Mädchen grinsend hinterherblickte. Wir beide waren ungefähr gleich groß, aber ich brachte deutlich mehr Masse auf die Waage. Ich sah ihm lange in die Augen, ohne ein Wort zu sagen. Jeder andere wäre eingeknickt, nur dieser Mann nicht.
„ Das ist eine freundlich gemeinte Warnung. Wenn ich so etwas noch mal mitbekomme, werde ich alle Hebel dieser Welt in Bewegung setzen, damit Sie hier verschwinden.“ Ich hatte beinahe vor mir selber Angst, so tief und bedrohlich klang meine Stimme.
Und er? Er lachte. Er lachte mich aus. Ich begriff, diesem Mann war mit guten Worten nicht beizukommen. Hier halfen nur andere Mittel. Welche das waren, darüber mochte ich in diesem Moment nicht nachdenken. Ich war Polizist, ich verbot es mir.
Er ließ mich ohne weitere Worte auf der Brücke stehen und lachte. Er lachte immer noch, als er hinter der nächsten Hausecke verschwand. Ich blieb ratlos zurück. Ich hatte hier ein Problem, eine tickende Zeitbombe. Sie würde irgendwann hochgehen, aber wann? Diese Frage stellte ich mir häufiger, als mir lieb war.
Sie wurde mir im Sommer 1939 beantwortet! Der Auslöser der folgenden Geschehnisse ereignete sich allerdings schon im Jahr zuvor. Hätte ich das gewusst, vielleicht hätte ich etwas anders
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