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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Gericht. Traditionell unterscheidet sich im russischen Prozeß der Zeuge wenig vom Angeklagten, und seine »Berührung« mit dem Verfahren wird ihm künftig als etwas Negatives anhängen. Noch schlimmer ist die Lage der Untersuchungshäftlinge. Sie alle sind künftige »Verurteilte«, denn man glaubt, »des Kaisers Frau ist ohne Laster« und die Inneren Organe machen keine Fehler. Niemand wird umsonst verhaftet. Auf die Verhaftung folgt logisch die Verurteilung; ob der oder jener Arrestant eine kurze oder lange Haftstrafe erhält, hängt entweder vom Glück des Häftlings ab, seinem »Schwein«, oder von einem ganzen Komplex von Gründen, wozu auch die Wanzen zählen, die den Untersuchungsführer in der Nacht vor seinem Vortrag gebissen haben, und die Abstimmung im amerikanischen Kongreß.
    Hinaus aus dem Untersuchungsgefängnis führt im Grunde nur ein Weg – in den »Schwarzen Raben«, den Gefängnisbus, der die Verurteilten zum Bahnhof bringt. Am Bahnhof – die Verladung in heizbare Güterwaggons, das Kriechen der zahllosen Häftlingswaggons über die Gleiswege und schließlich eines der Tausende »Arbeits«lager.
    Dieses Verlorensein drückt dem Verhalten der Untersuchungshäftlinge seinen Stempel auf. Unbekümmertheit und Beherztheit werden abgelöst von düsterem Pessimismus und dem Verfall der seelischen Kräfte. Der Untersuchungshäftling kämpft in den Verhören mit einem Phantom, einem Phantom von gigantischer Kraft. Der Häftling ist es gewohnt, mit Realitäten umzugehen, und nun mißt sich ein Phantom mit ihm. Doch »diese Flamme – sengt, und diese Lanze sticht empfindlich«. Alles ist entsetzlich real, außer dem »Verfahren« selbst. Aufgepeitscht und niedergeschlagen vom Kampf gegen phantastische Visionen, erschüttert von ihrer Größe, verliert der Häftling den Willen. Er unterschreibt alles, was der Untersuchungsführer erfunden hat, und von diesem Moment an wird er zu einer Figur dieser unwirklichen Welt, gegen die er gekämpft hat, wird zur Schachfigur in diesem schrecklichen und dunklen blutigen Spiel, das in den Kabinetten der Untersuchungsführer gespielt wird.
    »Wohin wurde er gebracht?«
    »Nach Lefortowo. Zum Unterschreiben.«
    Die Untersuchungshäftlinge wissen von ihrem Verlorensein. Davon wissen auch jene Leute im Gefängnis, die auf der anderen Seite des Gitters sind – die Gefängnisverwaltung. Kommandanten, Aufseher, Wachen und Posten sind es gewohnt, die Untersuchungshäftlinge nicht als künftige, sondern als tatsächliche Häftlinge anzusehen.
    Ein Untersuchungshäftling stellte 1937 während der Überprüfung dem diensttuenden Wachkommandanten eine Frage zu der neuen Verfassung, die damals eingeführt wurde. Der Kommandant antwortete schroff:
    »Das geht euch nichts an. Eure Verfassung ist das Strafgesetzbuch.«
    Auch auf die Untersuchungshäftlinge im Lager warteten Veränderungen. Im Lager gibt es immer viele Untersuchungshäftlinge, denn das Abbüßen einer Haftstrafe bedeutete keineswegs, der permanenten Geltung sämtlicher Artikel des Strafgesetzbuchs entronnen zu sein. Sie galten genauso wie in Freiheit, nur war alles – Denunziationen, Bestrafungen, Verhöre – noch unverhüllter, noch grob-phantastischer.
    Als in der Hauptstadt Lebensmittel- und Sachübergaben verboten wurden, wurde an der Peripherie der Gefängnisse, in den Lagern, eine »Untersuchungsration« eingeführt – ein Becher Wasser und dreihundert Gramm Brot am Tag. Dieses Karzerregime, in das die Untersuchungshäftlinge versetzt wurden, brachte sie rasch an den Rand des Grabs.
    Mit dieser »Untersuchungsration« versuchte man »den besten Beweis« zu erlangen – das eigene Geständnis des Untersuchungshäftlings, des Verdächtigen, des Beschuldigten.
    Im Butyrka-Gefängnis des Jahres 1937 waren Geldübergaben erlaubt, höchstens 50 Rubel im Monat. Für diese Summe konnte jeder, der Geld auf seinem Konto hatte, im Gefäng nis»lädchen« Lebensmittel kaufen, konnte viermal im Monat dreizehn Rubel ausgeben – das »Lädchen« fand einmal pro Woche statt. Wenn ein Untersuchungshäftling bei der Verhaftung mehr Geld hatte, wurde das Geld auf sein Konto eingezahlt, aber ausgeben durfte er nicht mehr als 50 Rubel.
    Bargeld gab es natürlich nicht, es wurden Quittungen ausgegeben, und auf der Rückseite wurde abgerechnet, von der Hand des Verkäufers und unbedingt mit roter Tinte.
    Für den Kontakt zur Leitung und zur Aufrechterhaltung einer kameradschaftlichen Disziplin in der Zelle existiert seit

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