Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Diagnose waren Häftlinge – ausgezehrt, Dystrophiker, und es gab keine Hoffnung, daß sie die Operation überstehen würden. »Der Hintergrund ist schlecht«, hatte Aleksandr Aleksandrowitsch gesagt.
    »Ein Feigling«, schrie Lunin und holte aus der Inneren Abteilung zwölf solcher Kranken zu sich. Alle zwölf wurden operiert – und alle zwölf starben. Die Krankenhausärzte erinnerten sich wieder an Rubanzews Erfahrung und seine Barmherzigkeit.
    »Sergej Michajlowitsch, so kann man nicht arbeiten!«
    »Du wirst mir keine Anweisungen geben!«
    Ich schrieb einen Antrag auf Einladung einer Kommission aus Magadan. Sie versetzten mich in den Wald, in ein Waldaußenlager. Sie wollten mich ins Strafbergwerk schicken, doch der Bevollmächtigte der Kreisabteilung riet ab – es ist nicht mehr das Jahr achtunddreißig. Es lohnt nicht.
    Die Kommission reiste an, und Lunin wurde »aus dem Dalstroj entlassen«. Statt dreien hatte er nur anderthalb Jahre »abarbeiten« müssen.
    Und ich kam nach einem Jahr, als die Krankenhausleitung gewechselt hatte, vom Feldscherpunkt des Waldabschnitts zurück, um die Aufnahme des Krankenhauses zu leiten.
    Den Nachkommen des Dekabristen traf ich irgendwann in Moskau auf der Straße. Wir grüßten uns nicht.
    ____
    Erst sechzehn Jahre später erfuhr ich, daß Edit Abramowna noch einmal Lunins Rückkehr zur Arbeit beim Dalstroj erreicht hatte. Gemeinsam mit Sergej Michajlowitsch fuhr sie nach Tschukotka, in die Siedlung Pewek. Hier gab es die letzte Unterredung, die letzte Auseinandersetzung, und Edit Abramowna stürzte sich ins Wasser, ging unter, ertrank.
    Manchmal wirken die Schlafmittel nicht, und ich werde in der Nacht wach. Ich denke an das Vergangene und sehe ein reizendes Frauengesicht, höre eine tiefe Stimme: »Serjosha, ist das dein Kamerad?..«
    1962

Die »Armenkomitees«
    Auf den tragischen Seiten des Rußlands der Jahre sieben- und achtunddreißig gibt es auch lyrische Zeilen, in einer originellen Handschrift geschrieben. In den Zellen des Butyrka-Gefängnisses – eines riesigen Gefängnisorganismus’, mit dem verwickelten Leben einer Vielzahl von Gebäudeblocks, Kellern und Türmen –, vollgestopft bis zum Bersten, bis zum Ohnmachtsanfall bei den Untersuchungshäftlingen, im ganzen Wirrwarr der Verhaftungen, der Etappen ohne Urteil und Strafmaß, in den Zellen, vollgestopft mit lebendigen Menschen, hatte sich ein interessanter Brauch, eine Tradition gebildet, die nicht nur ein Jahrzehnt lang hielt.
    Eine Krankheit hatte das ganze Land erfaßt – die unablässig geforderte Wachsamkeit, die in Spionomanie überging. Jeder Kleinigkeit, jeder Belanglosigkeit, jedem Versprecher gab man einen unheilschweren geheimen Sinn, der eine Auslegung in den Untersuchungskabinetten erforderte.
    Der Beitrag der Gefängnisbehörde war das Verbot von Sach- und Lebensmittelübergaben an Untersuchungshäftlinge. Die Weisen der juristischen Welt versicherten, man könne, indem man mit zwei französischen Brötchen, fünf Äpfeln und einem Paar alter Hosen operiere, einen beliebigen Text ins Gefängnis übermitteln, selbst ein Stück aus »Anna Karenina«.
    Diese »Signale aus der Freiheit« – Produkt des erregten Hirns diensteifriger Verwaltungsbeamter – wurden verläßlich durchkreuzt. Übergaben durften von nun an nur noch in Geld bestehen, und zwar – in höchstens fünfzig Rubeln im Monat pro Häftling. Die Geldanweisung durfte nur in runden Zahlen sein – 10, 20, 30, 40, 50 Rubel; so vermied man die Ausarbeitung eines neuen Signal-»Alphabets« der Ziffernfolge.
    Das Einfachste, das Sicherste wäre gewesen, die Übergaben ganz zu verbieten – doch diese Maßnahme blieb dem Untersuchungsführer vorbehalten, der das »Verfahren« führte. »Im Interesse der Untersuchung« konnte er Überweisungen überhaupt verbieten. Hier bestand auch ein gewisses kommerzielles Interesse – das »Lädchen«-Geschäft des Butyrka-Gefängnisses steigerte seine Umsätze um ein Vielfaches, seitdem Sach- und Lebensmittelübergaben verboten waren.
    Die Hilfe der Verwandten und Bekannten komplett zurückzuweisen konnte sich die Administration aus irgendeinem Grund nicht entschließen, obwohl sie sicher war, daß eine solche Handlung auch dann weder innerhalb des Gefängnisses noch außerhalb, in der Freiheit, auf irgendeinen Protest stoßen würde.
    Eine Schmälerung, eine Einschränkung der ohnehin illusorischen Rechte von Untersuchungshäftlingen ...
    Der russische Mensch steht nicht gern als Zeuge vor

Weitere Kostenlose Bücher