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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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unvordenklichen Zeiten die Institution des Zellenältesten.
    Jede Woche, am Tag vor dem »Lädchen«, gibt die Gefängnisverwaltung dem Zellenältesten während der Überprüfung Schiefertafel und ein Stück Kreide. Auf dieser Tafel muß der Älteste im vorhinein einen Überschlag der Bestellungen aller Einkäufe machen, die die Häftlinge aus der Zelle tätigen wollen. Gewöhnlich stehen auf der Vorderseite der Schiefertafel die Lebensmittel in ihrer Gesamtmenge, und auf der Rückseite wird notiert, aus wessen Bestellungen genau sich diese Mengen zusammensetzen.
    Dieser Überschlag kostet gewöhnlich einen ganzen Tag, denn das Gefängnisleben ist von Ereignissen verschiedener Art durchflochten – die Bedeutung dieser Ereignisse ist für alle Häftlinge beträchtlich. Am Morgen des nächsten Tages gehen der Älteste und mit ihm ein, zwei Personen zum Einkaufen in den Laden. Der Rest des Tages vergeht mit dem Teilen der mitgebrachten Lebensmittel – ausgewogen nach den »individuellen Bestellungen«.
    Im Gefängnisladen gab es eine große Auswahl an Lebensmitteln – Butter, Wurst, verschiedene Käse, weiße Brötchen, Papirossy, Machorka ...
    Die Wochenration der Gefängnisverpflegung ist ein für allemal festgelegt. Hätten die Häftlinge den Wochentag vergessen, so könnten sie ihn am Geruch der Mittagssuppe, am Geschmack des einzigen Gangs am Abend erkennen. Montags gab es mittags immer Erbsensuppe und am Abend Hafergrütze; dienstags Weizensuppe und Perlgraupengrütze. In sechs Monaten Untersuchungsgefängnis gab es jedes Gefängnisgericht genau fünfundzwanzig Mal – die Verpflegung des Butyrka-Gefängnisses war immer berühmt für ihre Abwechslung.
    Wer Geld hatte, und sei es diese vier Mal dreizehn Rubel, konnte über Gefängnis-Brühe und »Schrapnell« hinaus etwas Schmackhafteres, Nahrhafteres, Nützlicheres zukaufen.
    Wer kein Geld hatte, konnte natürlich keinerlei Einkäufe tätigen. In der Zelle gab es immer Leute ohne eine einzige Kopeke – das betraf nicht nur ein, zwei Personen. Es konnte ein hergebrachter Auswärtiger sein, der irgendwo auf der Straße und »hochgeheim« verhaftet wurde. Seine Frau rannte zu allen Gefängnissen und Kommandanturen und Milizrevieren der Stadt und versuchte vergeblich, die »Adresse« ihres Mannes zu erfahren. Die Regel war eine ausweichende Antwort, das völlige Schweigen sämtlicher Einrichtungen. Die Frau trug ein Päckchen von Gefängnis zu Gefängnis – vielleicht wird es angenommen, und das heißt, ihr Mann ist am Leben, und wenn es nicht angenommen wird – erwarten sie unruhige Nächte.
    Oder es war ein verhafteter Familienvater; gleich nach seiner Verhaftung wurden seine Frau, die Kinder und Verwandten gezwungen, sich von ihm abzuwenden. Der Untersuchungsführer quälte ihn vom Moment der Verhaftung an mit ununterbrochenen Verhören, um ihm ein Geständnis dessen abzunötigen, was er niemals getan hat. Als Einwirkungsmaßnahme, neben den Drohungen und der Prügel, nahm man den Häftlingen das Geld.
    Verwandte und Bekannte fürchteten sich mit gutem Grund, ins Gefängnis zu gehen und Übergaben hinzutragen. Beharrlichkeit bei den Übergaben, bei der Suche, bei den Erkundigungen zog oft Verdächtigungen, unliebsame und ernste Unannehmlichkeiten im Dienst und sogar die Verhaftung nach sich – auch das kam vor.
    Es gab auch eine andere Art von geldlosen Arrestanten. In Zelle achtundsechzig saß Ljonka, ein Jugendlicher von etwa siebzehn Jahren, aus dem Kreis Tuma im Moskauer Gebiet stammend, einem abgelegenen Ort für die dreißiger Jahre.
    Ljonka – dick, weißgesichtig, mit ungesunder Haut, die lange keine frische Luft gesehen hatte –, fühlte sich im Gefängnis großartig. Er wurde verpflegt wie nie zuvor im Leben. Mit Leckereien aus dem Lädchen bewirtete ihn fast jeder. Er gewöhnte sich an, Papirossy zu rauchen, nicht Machorka. Ihn rührte alles – wie interessant es hier ist, was für gute Leute –, eine ganze Welt öffnete sich vor dem ungebildeten Jungen aus dem Kreis Tuma. Sein Untersuchungsverfahren hielt er für eine Art Spiel, eine Sinnestäuschung – das Verfahren machte ihm nicht die geringsten Sorgen. Er wollte nur, daß dieses Leben im Untersuchungsgefängnis, wo es so nahrhaft, so sauber und warm war, ewig andauern sollte.
    Sein Verfahren war erstaunlich. Es war die exakte Wiederholung der Situation des Tschechowschen Übeltäters. Ljonka hatte Schraubenmuttern im Eisenbahngleisbett losgedreht und wurde am Ort des Verbrechens gefaßt

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