Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
nachstellte – natürlich einer Sozialen. Den Lagerehemann dieser Sozialen hatte man längst auf Befehl des Chefs im Strafbergwerk zugrunde gerichtet. Aber mit dem Chef zusammenleben wollte das Mädchen nicht. Und jetzt versucht sie auf der Durchreise – die Etappe kommt hier vorbei – ins Krankenhaus zu kommen, um den Nachstellungen zu entgehen. Vom Zentralkrankenhaus werden die Kranken nach ihrer Genesung nicht zurückgeschickt: sie kommen an einen anderen Ort. Vielleicht dorthin, wohin die Hand dieses Chefs nicht reicht.
»Aha«, sagte Krist. »Dann schick mir die junge Frau.«
»Sie ist hier. Komm rein, Lida!«
Eine kleine blonde junge Frau stand vor Krist und erwiderte mutig seinen Blick.
Ach, wie viele Menschen waren im Leben vor Krists Augen vorübergezogen. Wieviel Tausende Augen hatte er verstanden und durchschaut. Krist irrte sich selten, sehr selten.
»Gut«, sagte Krist. »Legen Sie sie ins Krankenhaus.«
Der kleine Chef, der Lida hergebracht hatte, stürmte ins Krankenhaus – zum Protestieren. Doch für die Krankenhausaufseher ist ein Unterleutnant ein niedriger Dienstgrad. Man ließ ihn nicht ins Krankenhaus. Bis zum Obersten – dem Krankenhaus-Chef – kam der Leutnant gar nicht, er kam nur bis zum Major, dem Chefarzt. Mit Mühe erreichte er, empfangen zu werden, und legte seine Sache dar. Der Chefarzt bat den Leutnant, die Krankenhausärzte nicht zu belehren, wer krank sei und wer nicht. Und dann – was interessiere den Leutnant das Schicksal seiner Sekretärin? Er solle im hiesigen Lager um eine andere bitten. Und man wird sie ihm schicken. Kurz, der Chefarzt hat keine Zeit mehr. Der nächste!..«
Der Leutnant fuhr fluchend ab und verschwand für immer aus Lidas Leben.
Es ergab sich, daß Lida im Krankenhaus blieb, sie arbeitete im Kontor und spielte im Laienkunstzirkel mit. Ihren Artikel hat Krist gar nicht erfahren – er interessierte sich niemals für die Artikel der Menschen, die ihm im Lager begegneten.
Das Krankenhaus war groß. Ein riesiges Gebäude mit drei Stockwerken. Zweimal am Tag brachten Begleitposten die Ablösung des Versorgungspersonals aus der Lagerzone – Ärzte, Schwestern, Feldscher, Sanitäter – und das Personal zog sich geräuschlos in der Garderobe um und verteilte sich geräuschlos auf die Krankenhausabteilungen, und erst an den jeweiligen Arbeitsstellen verwandelte es sich in Wassilij Fjodorowitsch, Anna Nikolajewna, Katja oder Petja, Waska oder Shenka, den »Langen« oder die »Blatternarbige« – nach der jeweiligen Funktion als Arzt, als Schwester, als Krankenhaussanitäter oder Beschäftigter in der »äußeren« Versorgung.
Krist kehrte bei seiner Vierundzwanzigstundenschicht nicht ins Lager zurück. Manchmal sahen er und Lida einander, lächelten einander zu. All das war vor zwei Jahren gewesen. Im Krankenhaus hatten die Chefs auf sämtlichen »Stellen« schon zweimal gewechselt. Niemand wußte überhaupt noch, wie Lida ins Krankenhaus gelegt wurde. Das wußte – nur noch Krist. Er mußte herausfinden, ob auch Lida das weiß.
Der Entschluß war gefallen, und während des Antretens des Versorgungspersonals ging Krist zu Lida hin.
Das Lager mag keine Sentimentalität, es mag keine langen und unnützen Vorworte und Erklärungen, es mag keinen »Anlauf«.
Lida wie auch Krist waren Kolyma-Veteranen.
»Hör zu, Lida – du arbeitest in der Registratur?«
»Ja.«
»Und die Entlassungspapiere tippst du?«
»Ja«, sagte Lida. »Der Chef tippt auch selbst. Aber er kann es nicht gut und verdirbt die Formulare. All diese Papiere tippe immer ich.«
»Bald wirst du meine Papiere tippen.«
»Glückwunsch ...«, Lida schnippte ein unsichtbares Stäubchen von Krists Kittel.
»Wirst du die alten Vorstrafen eintippen, da gibt es doch so eine Rubrik?..«
»Ja, die gibt es.«
»Laß bei dem Wort ›KRTD‹ das ›T‹ weg.«
»Verstanden«, sagte Lida.
»Wenn der Chef es beim Unterschreiben merkt, dann lächelst du und sagst, du hast dich vertippt. Hast ein Formular verdorben ...«
»Ich weiß, was ich sagen muß ...«
Das Versorgungspersonal war schon zum Aufbruch angetreten.
Zwei Wochen vergingen, und Krist wurde gerufen und bekam seine Entlassungsbescheinigung ohne »T«.
Zwei Ingenieure, die er kannte, und ein Arzt fuhren mit Krist in die Paßabteilung, um zu sehen, was für einen Paß er bekäme. Oder ob man ihn ihm verweigert, als ... Die Papiere wurden durchs Fensterchen gereicht, Antwort in vier Stunden. Krist aß bei einem Bekannten, einem
Weitere Kostenlose Bücher