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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Arzt, in Ruhe zu Mittag. In all solchen Situationen muß man sich zum Mittagessen, zum Abendessen, zum Frühstücken zwingen.
    Vier Stunden später warf das Fensterchen das lila Papier eines einjährigen Passes aus.
    »Einjährig?«, fragte Krist verdutzt und legte einen besonderen eigenen Sinn in die Frage.
    Im Fensterchen zeigte sich die rasierte Physiognomie eines Militärs:
    »Einjährig. Wir haben im Moment keine Formulare für Fünfjahrespässe. Wie er Ihnen zusteht. Wollen Sie bis morgen bleiben – es werden Pässe gebracht, und wir schreiben ihn um? Oder Sie tauschen diesen einjährigen in einem Jahr?«
    »Lieber tausche ich diesen in einem Jahr.«
    »Natürlich.« Das Fensterchen schlug zu.
    Krists Bekannte waren verblüfft. Der eine Ingenieur sprach von Krists Glück, der andere sah darin die längst zu erwartende Milderung des Regimes, jene erste Schwalbe, die ganz, ganz sicher den Frühling macht. Und der Arzt sah darin Gottes Willen.
    ____
    Krist sagte Lida kein einziges Wort des Danks. Und sie erwartete das auch nicht. Für so etwas – bedankt man sich nicht. Dank – ist nicht das richtige Wort.
    1965

Das Aorten-Aneurysma
    Früh um neun hatte Gennadij Petrowitsch Sajzew seinen Dienst aufgenommen, und schon um halb elf kam ein Krankentransport – Frauen. Darunter war auch jene Kranke, auf die Podschiwalow Gennadij Petrowitsch angesprochen hatte – Jekaterina Glowazkaja. Dunkeläugig und rundlich, gefiel sie Gennadij Petrowitsch, gefiel ihm sehr.
    »Hübsch?«, fragte der Feldscher, als man die Kranken zum Waschen geführt hatte.
    »Sehr hübsch ...«
    »Das ist ...«, und der Feldscher flüsterte Doktor Sajzew etwas ins Ohr.
    »Na und, Senkas Frau?«, sagte Gennadij Petrowitsch laut. »Senkas oder Wenkas, Versuch macht klug.«
    »Hals und Beinbruch. Von ganzem Herzen!«
    Gegen Abend trat Gennadij Petrowitsch seine Visite an. Die diensthabenden Feldscher, die Sajzews Gewohnheiten kannten, füllten ungewöhnliche Mixturen aus »tinctura absinthi« und »tinctura valeriani« oder auch den Likör »Blaue Nacht«, einfach denaturierten Alkohol, in die Meßgläser. Gennadij Petrowitschs Gesicht wurde immer röter, die kurzgeschorenen grauen Haare ließen die purpurrote Glatze des diensthabenden Arztes unbedeckt. Um elf Uhr abends kam er bei der Frauenabteilung an. In der Frauenabteilung hatte man schon die eisernen Riegel vorgeschoben, zwecks Vermeidung eines Anschlags von gewalttätigen Ganoven aus den Männerabteilungen. In der Tür war ein Gefängnisauge oder »Guckloch« und der Knopf einer elektrischen Klingel, die zu den Wachhabenden führte, ins Gebäude der Wache.
    Gennadij Petrowitsch klopfte, das Auge blinzelte, und die Riegel klirrten. Die Nachtschwester öffnete die Tür. Gennadij Petrowitschs Schwächen waren ihr zur Genüge bekannt, und sie verhielt sich dazu mit aller Nachsicht des einen Häftlings für den anderen.
    Gennadij Petrowitsch betrat den Behandlungsraum, und die Schwester reichte ihm ein Meßgläschen »Blaue Nacht«. Gennadij Petrowitsch trank.
    »Ruf mir von den Heutigen diese ... Glowazkaja.«
    »Aber ...«, die Schwester schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
    »Das ist meine Sache. Ruf sie her ...«
    ____
    Katja klopfte an und trat ein.
    Der diensthabende Arzt verschloß die Tür mit dem Riegel.
    Katja setzte sich auf den Rand der Liege. Gennadij Petrowitsch knöpfte ihr den Kittel auf, schob den Kragen beiseite und flüsterte:
    »Ich muß dich abhören ... dein Herz ... Deine Leiterin hat mich gebeten ... Ich mache es französisch ... ohne Stethoskop ...«
    Gennadij Petrowitsch drückte sein behaartes Ohr an Katjas warme Brust. Alles lief ab, wie schon Dutzende Male zuvor, mit anderen. Gennadij Petrowitschs Gesicht rötete sich, und er hörte nur die dumpfen Schläge des eigenen Herzens. Er umarmte Katja. Plötzlich hörte er ein sonderbares und sehr bekanntes Geräusch. Es war, als ob irgendwo in der Nähe eine Katze schnurrte oder ein Bergbach murmelte. Gennadij Petrowitsch war zu sehr Arzt – immerhin war er einmal Assistent von Pletnjow gewesen.
    Das eigene Herz schlug immer leiser, immer gleichmäßiger. Gennadij Petrowitsch wischte sich die schweißnasse Stirn mit einem Waffelhandtuch und hörte Katja noch einmal ab. Er bat sie, sich auszuziehen, und sie zog sich aus, beunruhigt von seinem veränderten Ton und der Besorgnis in seiner Stimme und seinen Augen.
    Gennadij Petrowitsch horchte, er horchte – das Katzenschnurren hörte nicht auf.
    Er lief durch den Raum,

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