Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Sprechstunde goß mir der Arzt jedesmal Kaliumpermanganat in eine kleine Blechkelle und krächzte, ohne mir in die Augen zu schauen: »Der nächste!« Kaliumpermanganat verabreichte man innerlich gegen die Ruhr, man bepinselte damit Erfrierungen, Wunden und Verbrennungen. Kaliumpermanganat war das universelle und das alleinige Heilmittel im Lager. Eine Arbeitsbefreiung gaben sie mir kein einziges Mal – der treuherzige Sanitäter erklärte, »das Limit ist erschöpft«. Kontrollziffern für die Gruppe »W«, »vorübergehend von der Arbeit befreit«, gab es tatsächlich für jeden Lagerpunkt, für jedes Ambulatorium. Das Limit »überschreiten« wollte niemand, allzu weichherzigen gefangenen Ärzten oder Feldschern drohten die allgemeinen Arbeiten. Der Plan war der Moloch, der Menschenopfer forderte.
    Im Winter wurde Dshelgala von hohen Chefs besucht. Drabkin reiste an, der Chef der Kolyma-Lager.
    »Wißt ihr, wer ich bin? Ich bin der Oberste von allen«, Drabkin war jung, erst kürzlich ernannt.
    Umringt von einer Menge von Leibwächtern und lokalen Chefs lief er die Baracken ab. In unserer Baracke gab es noch Leute, die das Interesse an Gesprächen mit den hohen Chefs nicht verloren hatten. Sie fragten Drabkin:
    »Warum werden hier Dutzende Leute ohne Urteil festgehalten – die, deren Haftzeit längst abgelaufen ist?«
    Drabkin war auf diese Frage durchaus vorbereitet:
    »Habt ihr etwa kein Urteil? Hat man euch nicht das Papier vorgelesen, daß ihr bis Kriegsende festgehalten werdet? Das ist das Urteil. Es bedeutet, daß ihr im Lager bleiben müßt.«
    »Unbefristet?«
    »Unterbrecht nicht, wenn der Chef mit euch spricht. Freilassen wird man euch auf Antrag der örtlichen Leitung. Wißt ihr, solche Beurteilungen?«, und Drabkin machte eine unbestimmte Geste mit der Hand.
    ____
    Und wieviel besorgte Stille gab es hinter meinem Rücken, wieviel abgebrochene Gespräche beim Nahen des VERLORENEN, wieviel mitfühlende Blicke – kein Lächeln, natürlich, kein ironisches Schmunzeln, die Leute aus unserer Brigade hatten das Lächeln schon lange verlernt. Viele in der Brigade wußten, daß Kriwizkij und Saslawskij etwas gegen mich »eingereicht« hatten. Viele fühlten mit mir, aber fürchteten, das zu zeigen – damit ich sie nicht »in die Sache hineinziehe«, wenn das Mitgefühl zu offensichtlich wird. Später erfuhr ich, daß der ehemalige Lehrer Fertjuk, von Saslawskij als Zeuge geladen, sich kategorisch geweigert hat, und Saslawskij mußte mit seinem ständigen Partner Kriwizkij auftreten. Zwei Zeugenaussagen sind das gesetzlich geforderte Minimum.
    ____
    Wenn man die Kräfte verloren hat, schwach geworden ist, möchte man sich um jeden Preis prügeln. Diesen Zustand, die Ereiferung des geschwächten Menschen, kennt jeder Häftling, der irgendwann gehungert hat. Hungernde prügeln sich auf eine nicht menschliche Art. Sie nehmen Anlauf zum Schlag, versuchen, mit der Schulter zu stoßen, zu beißen, ein Bein zu stellen, die Kehle zuzudrücken ... Die Gründe, aus denen ein Streit ausbricht, sind unendlich. Den Häftling reizt alles: die Chefs, die bevorstehende Arbeit, die Kälte, das schwere Werkzeug, der Kamerad, der neben ihm steht. Der Häftling streitet mit dem Himmel, der Schaufel, dem Stein und dem Lebendigen um ihn herum. Der kleinste Streit kann umschlagen in eine blutige Schlacht. Aber Denunziationen schreiben die Häftlinge nicht. Die Denunziationen schreiben die Kriwizkijs und Saslawskijs. Auch das ist der Geist des Jahres 1937.
    »Er hat mich Dummkopf genannt, und ich habe geschrieben, daß er die Regierung vergiften wollte. Wir sind quitt! Er mir – das Zitat, ich ihm – die Verbannung.« Und nicht nur die Verbannung, sondern Gefängnis oder das »Höchstmaß«.
    Die Meister dieser Dinge, die Kriwizkijs und Saslawskijs, kommen ziemlich oft auch selbst ins Gefängnis. Das bedeutet, daß jemand den Spieß gegen sie umgedreht hat.
    Früher war Kriwizkij Stellvertretender Minister für Verteidigungsindustrie und Saslawskij Reporter bei der »Iswestija«. Saslawskij habe ich mehrmals geschlagen. Wofür? Dafür, daß er trickste und den Holzstamm am »dünnen« statt am »dicken« Ende packte, dafür, daß er alle Gespräche in der Gruppe dem Brigadier oder dessen Stellvertreter, Kriwizkij, weitergab. Kriwizkij zu schlagen hatte ich keine Gelegenheit – wir arbeiteten in unterschiedlichen Gruppen, aber ich haßte ihn: für eine besondere Rolle, die er vor dem Brigadier spielte, für das ständige

Weitere Kostenlose Bücher