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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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streckte die Hand nach dem nächstliegenden Füllfederhalter aus – eine Menge davon, aller Größen und Fabrikate, lag auf dem Tisch.
    »Nein, nein, bitte mit einem einfachen Federhalter.«
    »Gut.«
    Ich schrieb: ich habe mich viele Male an die Ambulatorien der Zone gewandt – beinahe jeden Tag. Das Schreiben fiel mir sehr schwer – ich hatte darin nicht genügend Praxis.
    Fjodorow strich den Zettel glatt.
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird nach dem Gesetz geschehen.«
    Am selben Abend rasselten die Schlösser an meiner Zelle, und die Tür ging auf. In der Ecke auf dem Tisch des Diensthabenden brannte die »Kolymka« – ein vierstrahliges Benzinlämpchen aus einer Konservendose. Jemand in Halbpelz und Ohrenklappenmütze saß am Tisch.
    »Komm her.«
    Ich ging hin. Der Sitzende stand auf. Das war Doktor Mochnatsch, Kolyma-Veteran und Opfer des Jahres 1937. An der Kolyma hatte er bei den allgemeinen Arbeiten gearbeitet, dann war er zur ärztlichen Tätigkeit zugelassen worden. Er war in der Angst vor der Leitung erzogen. In seiner Sprechstunde im Ambulatorium der Zone war ich viele Male gewesen.
    »Guten Tag, Doktor.«
    »Guten Tag. Zieh dich aus. Atmen. Nicht atmen. Umdrehen. Bücken. Du kannst dich anziehen.«
    Doktor Mochnatsch setzte sich an den Tisch, und beim schwankenden Licht der »Kolymka« schrieb er:
    »Der Häftling Schalamow W. T. ist praktisch gesund. Während seines Aufenthalts in der ›Zone‹ hat er sich nicht ans Ambulatorium gewandt.
    Der Leiter des Ambulatoriums Mochnatsch, Arzt.«
    Dieser Text wurde mir einen Monat später im Gerichtsverfahren vorgelesen.
    ____
    Die Untersuchung ging dem Ende zu, und ich konnte einfach nicht begreifen, was man mir zur Last legte. Der hungrige Körper schmerzte und war froh, daß er nicht arbeiten mußte. Womöglich schicken sie mich zurück ins Bergwerk? Ich verscheuchte diese beängstigenden Gedanken.
    ____
    An der Kolyma kommt der Sommer schnell, überstürzt. Während eines Verhörs sah ich eine glühende Sonne, blauen Himmel, spürte den feinen Geruch der Lärche. Das schmutzige Eis lag noch in den Schluchten, aber der Sommer wartete nicht, bis das schmutzige Eis getaut war.
    Das Verhör zog sich hin, wir »klärten« etwas, der Begleitposten hatte mich noch nicht weggeführt – und zu Fjodorows Hütte wurde ein anderer Mann gebracht. Dieser andere Mann war mein Brigadier Nesterenko. Er kam auf mich zu und sagte dumpf: »Ich war gezwungen, versteh das, ich war gezwungen«, und verschwand in der Tür von Fjodorows Hütte.
    Nesterenko hatte eine Eingabe gegen mich geschrieben. Zeugen waren Saslawskij und Kriwizkij. Aber Nesterenko hatte wohl kaum je von Bunin gehört. Und wenn Saslawskij und Kriwizkij Schurken waren, so hatte mich Nesterenko vor dem Hungertod gerettet, indem er mich in seine Brigade aufnahm. Ich war dort nicht schlechter und nicht besser als jeder andere Arbeiter. Und ich hegte keinen Groll gegen Nesterenko. Ich hatte gehört, daß er die dritte Haftzeit im Lager hatte, ein alter Solowki-Häftling . Er war ein sehr erfahrener Brigadier, er verstand nicht nur die Arbeit, sondern auch die hungernden Menschen – er fühlte nicht mit ihnen, aber er verstand sie. Dazu ist bei weitem nicht jeder Brigadier in der Lage. In allen Brigaden gab es nach dem Abendessen einen Nachschlag – eine kleine Kelle dünne Suppe, was übrig war. Gewöhnlich gaben die Brigadiere den Nachschlag denen, die an diesem Tag am besten gearbeitet hatten –, dieses Verfahren wurde von der Lagerleitung offiziell empfohlen. Die Zuteilung des Nachschlags wurde öffentlich, beinahe feierlich begangen. Der Nachschlag wurde zu Produktions- wie zu Erziehungszwecken eingesetzt. Nicht immer hatte der, der mehr als die anderen gearbeitet hatte, auch besser gearbeitet als alle anderen. Und nicht immer wollte der Beste die dünne Brühe essen.
    In der Brigade Nesterenko gab man den Nachschlag den Hungrigsten – selbstverständlich nach Ermessen und auf Kommando des Brigadiers.
    ____
    Einmal hatte ich im Schurf einen riesigen Stein ausgegraben. Es überstieg sichtlich meine Kräfte, den riesigen Findling aus dem Schurf hinauszubefördern. Nesterenko sah das, sprang wortlos in den Schurf, hackte den Stein frei und stieß ihn nach oben ...
    Ich wollte nicht glauben, daß er gegen mich eine Eingabe geschrieben hatte. Obwohl ...
    ____
    Es hieß, aus dieser selben Brigade seien im letzten Jahr zwei Mann vor das Tribunal gekommen, Joshikow, und drei Monate später Issajew,

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